Der Übergang zur kompetenzbasierten Arbeitswelt

Beschleunigung von Lernprozessen, höhere Qualität von Entscheidungen, Stärkung der Innovationskultur: Der Nutzen der generativen KI geht weit über die Texterstellung hinaus. Raphael Gielgen sieht die Technologie gar als leistungsstarke Ressource, die Unternehmen einen entscheidenden Vorteil in einer komplexen Welt bringen, aber auch für enorme Veränderungen sorgen kann. In sechs Thesen skizziert er seine Sicht auf das Potenzial der generativen KI.

Die Wahrheit ist, dass sich das Arbeitsleben vieler von uns in einer klaren und konsistenten globalen Landschaft abspielt. Eine Landschaft, in der wir vielleicht viele implizite Annahmen und Überzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert, verankert haben. Auf der Grundlage dieser Annahmen treffen wir unsere Entscheidungen.

Die meisten unserer Annahmen werden zunehmend infrage gestellt. Was wir erleben, ist sicherlich mehr als nur ein weiterer Konjunkturzyklus. Generative KI wie GPT-4 und darüber hinaus kann in diesen Zeiten des Wandels und der Unsicherheit eine entscheidende Rolle dabei spielen, Geschäftsmodelle zu transformieren und sie an neue Realitäten anzupassen. Generative KI ist eine leistungsstarke Ressource für Unternehmen.

1_Beschleunigung von Innovation und Lernprozessen/

Generative Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Arbeitswelt, indem sie die Umsetzung von Innovations-, Erneuerungs- und Lernprozessen in Unternehmen revolutioniert. Diese Technologie ermöglicht es, all dies nicht nur in einem bisher unerreichten Umfang, sondern auch mit einer deutlich erhöhten Geschwindigkeit durchzuführen.

Das Ergebnis ist eine wesentlich schnellere Identifikation und Sichtbarmachung erfolgreicher Strategien, die innerhalb der Organisation effizient skaliert werden können.

Generative KI ist ein Katalysator für beschleunigtes Lernen.

Und für Innovation, indem sie den ansonsten abstrakten Innovationsprozess für alle zugänglich macht. Unternehmen werden durch den Einsatz von generativer KI ihre Wissensbasis erweitern und gleichzeitig die Effizienz ihrer internen Wissensverbreitung steigern.

Wir befinden uns im Übergang von einer wissensbasierten zu einer kompetenzbasierten Arbeitswelt – und generative KI ist ein zentrales Werkzeug dafür.

2_Erweiterung des Wissensspektrums/

Generative KI spielt eine zunehmend zentrale Rolle bei der Erweiterung des Wissensspektrums in modernen Arbeitsumgebungen. Sie wird den Zugang zu umfangreichen Wissenspools erleichtern und komplexe Informationen vereinfachen, wodurch die Qualität und Quantität der für Entscheidungsprozesse verfügbaren Informationen völlig anders sein wird, als wir es heute kennen.

Wir leben in einer Zeit, in der von Menschen geschaffene und etablierte Systeme zusammenbrechen und nicht mehr aktualisiert werden können. Durch die Analyse und Synthese großer Datenmengen kann die generative KI Erkenntnisse generieren, die zuvor unzugänglich oder verborgen waren, und es so jedem im Unternehmen ermöglichen, fundiertere Entscheidungen zu treffen – und uns damit alle in ein neues Zeitalter führen.

Die Auswirkungen dieses erweiterten Zugangs zu Informationen reichen von erhöhter Innovationsfähigkeit bis hin zur Optimierung von Geschäftsprozessen, was Unternehmen in einer zunehmend komplexen Wirtschaft einen entscheidenden Vorteil verschafft.

3_Verbesserung der sozialen Lernprozesse/

Die Integration von generativer KI in Unternehmen bietet eine beispiellose Möglichkeit, soziale Lernprozesse zu verbessern. Soziale Lernprozesse sind die Superkraft von Unternehmen. Soziales Lernen unterstützt nicht nur den Wissenstransfer, sondern fördert auch das individuelle und kollektive Lernen in der Organisation. Durch die Unterstützung bei der Analyse und Synthese großer Datenmengen kann generative KI Lerninhalte „auf den Punkt“ erstellen, die auf die spezifischen Bedürfnisse und Kontexte der Mitarbeitenden bzw. Teams zugeschnitten sind.

Generative KI wird Unternehmen dabei unterstützen, soziale Interaktionen und den damit verbundenen Wissensaustausch zu erleichtern, die Geschwindigkeit des Erlernens neuen Wissens zu erhöhen und die Anpassungsfähigkeit, insbesondere über Abteilungsgrenzen hinweg, zu unterstützen. Ich verspreche mir viel davon, dass das soziale Lernen durch generative KI die Innovationskultur, die Ambitionen und die Wettbewerbsposition von Unternehmen stärkt.

4_Automatisierung der Wissensarbeit/

Der Einfluss von „Robot Process Automation“(RPA)-Tools in Verbindung mit KI auf die Wissensarbeit ist groß und vielschichtig. Diese Technologien tragen nicht nur zur Automatisierung von Routineaufgaben bei, sondern auch zur Automatisierung von Teilen der Wissensarbeit. Es liegt auf der Hand, dass wir bereits heute viele repetitive und zeitaufwendige Aufgaben durch RPA-Tools abbilden können.

Mit dem Fortschritt der generativen KI werden auch anspruchsvolle Aufgaben, die menschliches Urteilsvermögen und Kreativität erfordern, automatisiert werden. Ein konkretes Beispiel sind die zahlreichen Analysewerkzeuge, die heute in der Lage sind, komplexe Datenmengen zu verarbeiten und Muster zu erkennen, die für Menschen nur schwer wahrzunehmen sind.

Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidungsfindung durch KI-gestützte Systeme. Große Datenmengen werden in Echtzeit analysiert und auf dieser Basis Empfehlungen oder Vorhersagen generiert. Die Automatisierung dieser Fähigkeit war vor anderthalb Jahren noch undenkbar.

5_Förderung der Innovationskultur/

Generative KI spielt eine entscheidende Rolle bei der Förderung einer Innovationskultur in Unternehmen. Durch die Förderung von Kreativität und Experimentierfreude schafft sie ein Umfeld, in dem Mitarbeitende ermutigt werden, neue Erkenntnisse zu gewinnen und diese innerhalb der Organisation zu teilen. Dabei werden die Grenzen der Abteilung und des eigenen Fachgebiets überschritten.

Die Integration von generativer KI in die alltäglichen Arbeitsprozesse ermöglicht es, bisher unerkannte Lösungen zu entdecken, und fördert eine Atmosphäre, in der Innovation das Gebot der Stunde ist. Dies trägt wesentlich zur Transformation von Unternehmen und ihren Geschäftsmodellen bei. In der heutigen dynamischen und wettbewerbsintensiven Geschäftswelt sind die Förderung einer Innovationskultur und deren praktische Umsetzung für alle Unternehmen von entscheidender Bedeutung. Generative KI kann hier zum Gamechanger werden.

6_Der Wandel zur fähigkeitsbasierten Arbeitswelt/

In einer sich verändernden Talentlandschaft zeichnet sich ein neues, transformatives System ab. Es rückt die individuellen Kompetenzen in den Mittelpunkt der Entscheidungsfindung und stellt gleichzeitig die Bedeutung traditioneller Zeugnisse und Berufsbezeichnungen infrage.

Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen konzentrieren sich zunehmend auf die Entwicklung und Verbesserung übertragbarer Kompetenzen, die sie in die Lage versetzen, auf einem sich wandelnden, zunehmend digitalen Talentmarkt beschäftigungsfähig zu bleiben. Dies erfordert ein hohes Maß an physischer Interaktion, Reibung und Zufall.

Generative KI kann in dieser neuen, kompetenzbasierten Arbeitswelt eine entscheidende Rolle spielen, indem sie sowohl Unternehmen als auch Einzelpersonen dabei unterstützt, die erforderlichen Kompetenzen zu identifizieren, zu entwickeln und zu bewerten. Ob durch die Bereitstellung personalisierter Lernwege, die Förderung von Zusammenarbeit und Netzwerkbildung sowie die Unterstützung bei der Karriereentwicklung:

Generative KI kann dazu beitragen, die Talentlandschaft in der neuen Arbeitswelt zu stärken.

 

 

Autor

Raphael Gielgen
ist „Trendscout Future of Work Life & Learn“ bei dem Schweizer Möbelhersteller Vitra. Er setzt sich seit Jahren mit den Entwicklungen der Arbeitswelt auseinander.
»Raphael bei LinkedIn

Vertrauen ist das Fundament für gute Teamarbeit – und damit auch eine wesentliche Voraussetzung des Unternehmenserfolgs. Doch eine Vertrauenskultur im Team entsteht nicht per Knopfdruck. Karin Lausch beschreibt sieben notwendige Schritte, die in jedem Team und von jeder Führungskraft beherzigt werden sollten.

Zukunftsfähiges Arbeiten ist selbstbestimmt, gesund, innovativ und produktiv. Vertrauen im Team, also psychologische Sicherheit, bildet dafür die notwendige Grundlage. Doch derzeit erleben wir eine noch nie dagewesene kollektive Vertrauenskrise und fallen zurück in Kontrollmechanismen und Bürokratie. Viele glauben, für mehr Leistung brauche es engere Zügel. Das wirft uns nicht nur wirtschaftlich zurück und sorgt für Frust und Kündigungen, sondern belastet auch noch unsere Gesundheit. Wir müssen verstehen, dass Vertrauen nicht das Problem, sondern die Lösung ist.

Das TRUST-ME-Modell hilft, psychologische Sicherheit im Team zu fördern. „TRUST ME“ ist ein Akronym und besteht aus den sieben Anfangsbuchstaben der folgenden Schritte.

1. Transparenz

Führungskräfte brauchen ein positives Menschenbild und eine Haltung, die davon ausgeht, dass ihre Mitarbeitenden mit der Wahrheit umgehen können – das können die meisten schließlich in ihrem Privatleben auch. Es gibt also keinen Grund für Intransparenz. Informationen werden im Team transparent gemacht und besprochen. Allerdings:

Kommunikation hört nicht mit dem Weitergeben der Informationen auf.

Jede Information löst Hoffnungen und Ängste bei Mitarbeitenden aus und diese steuern unbewusst einen großen Teil des Verhaltens. Teams, die regelmäßig über ihre Hoffnungen und Ängste sprechen, entwickeln nicht nur mehr psychologische Sicherheit, sondern auch bessere Lösungen. Ein gemeinsames Board mit den Spalten „Hopes“ and „Fears“ hilft, in gemeinsamen Runden vorhandene Ängste und Hoffnungen zu sammeln und gemeinsam zu verarbeiten.

2. Reflexion

Wir vertrauen uns dann, wenn wir das Gefühl haben, dass wir uns weiterentwickeln können. Wären Hopfen und Malz verloren, wäre auch kein Vertrauen da. Kontinuierliche Selbstreflexion im Team steigert daher auch die psychologische Sicherheit. Alle vier bis sechs Wochen gibt es einen geschützten Raum, auch Retrospektive genannt, in dem gemeinsam erarbeitet wird, was gut gelaufen ist und was das Team ganz konkret verändern möchte.

Wichtig: Die Retrospektive fällt nicht aus, auch wenn es mal stressig zugeht, oder es keine offensichtlichen Themen im Team gibt. Auf die Retro muss das Team sich verlassen können. Und Themen gibt es immer, auch wenn sie im ersten Moment nicht offensichtlich sind. Gerade in turbulenten Zeiten kann eine gemeinsame Retrospektive das Team davor bewahren, in Stressmuster zu verfallen und helfen, neue und wirksamere Wege zu identifizieren.

Literaturtipp

Karin Lausch (2023):
„Trust me. Warum Vertrauen die Zukunft der Arbeit ist“, Haufe

Das Buch ist Spiegel- und Manager-Magazin-Bestseller in der Kategorie „Wirtschaftsbuch“.

 

3. Unterstützung

„Willst du schnell gehen, geh’ allein, willst du weit gehen, geh’ gemeinsam.“ Die meisten Menschen verteilen unbewusst Ratschläge, wenn sie helfen wollen. Doch Ratschläge sind nichts weiter als Handlungsanweisungen aus der Vergangenheit anderer und haben wenig mit unserem eigenen Leben zu tun. Besser ist es, zu fragen: „Wie kann ich dich unterstützen?“ und dann wirklich gut zuzuhören. Diese Frage zeigt Wohlwollen und das ist einer der größten Förderer von Vertrauen. Wir spüren, dass unser Team es gut mit uns meint. Ein Check-in zu Beginn der Woche, in dem jedes Teammitglied äußern kann, wo es Unterstützung braucht und sich dafür mit anderen Teammitgliedern verabredet, ist ein gutes Ritual, um den Support im Team zu institutionalisieren.

4. Sinn

Sinn ist das, was alles zusammenhält. Wenn etwas Sinn ergibt, dann können wir vertrauen. Umgekehrt wird es noch deutlicher: Wenn etwas keinen Sinn ergibt, werden wir misstrauisch. Deshalb ist es wichtig, dass das Team den Sinn an der eigenen Arbeit und Arbeitsweise erkennt. Die Retrospektive hilft dabei, sinnlose Prozesse zu identifizieren. Wichtig ist dann aber auch, diese sinnlosen Prozesse abzubauen und den Mut zu haben, gemeinsam neue und vor allem sinnvollere Wege auszuprobieren. Ganz nach dem Motto „Kill your Darlings“ scheut sich das Team gemeinsam nicht davor, auch liebgewonnene Vorgehensweisen oder „heilige Kühe“ umzuschmeißen.

5. Termintreue

Hier geht es um Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Integrität. Verspricht jemand zum Beispiel 120 Prozent, liefert aber nur 100 Prozent, ist das Gift für die Vertrauenswürdigkeit. Verspricht die gleiche Person nur 80 Prozent und liefert 100 Prozent, ist das ein richtiger Booster und ein Zeichen ins Team, das sagt: „Auf mich könnt ihr euch verlassen.“ In beiden Fällen wurde die gleiche Leistung erbracht, aber das Erwartungsmanagement war ein anderes. Eine regelmäßige gemeinsame Planung und realistische Versprechen helfen den Teammitgliedern, einander zu vertrauen.

6. Menschlichkeit

Wir sind darauf trainiert, im Arbeitskontext nur Gutes von uns zu zeigen. Für alles andere war lange kein Platz. Dabei ist unsere Unvollkommenheit eine große Chance für mehr psychologische Sicherheit und Potenzialentfaltung im Team. Wir alle „strugglen“, haben Herausforderungen oder kommen mal an unsere Grenzen. In erfolgreichen Teams zeigen sich die Teammitglieder verletzlich und sprechen über Konflikte und ihre Unvollkommenheit, statt sie zu verstecken. Psychologische Sicherheit bedeutet nicht, dass es immer harmonisch zugeht, sondern zeigt sich gerade dann, wenn nicht. Wenn wir streiten und uns verletzlich zeigen können, ohne
Angst vor zwischenmenschlichen Konsequenzen zu haben, dann vertrauen wir uns wirklich.

7. Ehrlichkeit

Psychologisch sichere Teams sagen sich die Wahrheit, auch wenn sie mal unangenehm ist. Doch viele scheuen sich davor, weil sie den Konflikt nicht eingehen wollen. Wichtig dabei ist, zu akzeptieren, dass es die eine Wahrheit nicht gibt, sondern nur die eigene Wahrheit. Die Ich-Botschaft ist das beste Mittel, um die eigene Wahrheit mitzuteilen. Statt zu sagen: „Du hast mich schon wieder nicht informiert und das musst du in Zukunft ändern!“, können wir sagen: „Ich fühle mich nicht gut informiert und frage mich, wie wir das gemeinsam besser hinbekommen können.“ In beiden Fällen sind wir ehrlich. Doch die zweite Variante ist anschlussfähig und baut eine Brücke zur anderen Person, statt sie einzureißen.

 

changement! Heft 02/2024

 

Autorin

Karin Lausch
ist Leadership-Expertin und Executive Coach. Sie begleitet seit 14 Jahren Führungskräfte und Teams in ihrer Entwicklung. Seit Jahren schreibt sie für unterschiedliche Wirtschaftsmagazine, wie t3n, STRIVE Magazine oder Haufe New Management über die Zukunft der Arbeit und New Leadership.
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(Und was nicht?)

Immer mehr Unternehmen bauen interne Change-Beratungseinheiten auf. Doch können diese innerhalb einer Organisation überhaupt erfolgreich sein? Wir haben nachgefragt.

 

Gespür für die eigene Organisation

„Ohne interne Change-Beratung wird es keine gelingende Transformation geben. Die bestehenden Beziehungen, das Wissen über das Unternehmen und die wichtigsten Stakeholder sowie das Gespür für die eigene Organisation sind für den Wandel essenziell. Das ist aber auch häufig die Achillesferse dieser Einheiten. Da sich die handelnden Personen als Teil des Systems offensichtlich in klaren Abhängigkeitsverhältnissen befinden, ist es häufig schwer, wirklich unabhängig und objektiv zu agieren. Es fehlt daher oft an Klarheit, Impact und Ausrichtung. Bewährt hat sich aus meiner Perspektive das geschickte Verknüpfen von internen und externen Perspektiven, um eine gelingende Transformation zu ermöglichen.“

Tobias Krueger
ist Gründer und CEO von Hello. Beta, einem Ökosystem mit dem Fokus auf Transformationsgestaltung. Er ist zudem Speaker und Prozessbegleiter. Zuvor war er viele Jahre für die Otto Group tätig.
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Es braucht Change-Kompetenz

„Zunächst einmal ist entscheidend, dass intern überhaupt ausreichend (aktuelle!) Change-Kompetenz vorhanden ist – das ist noch lange nicht selbstverständlich. Lineare Wasserfall-Pläne mit Kotter-Kurve und ein paar Seminare reichen nicht (mehr). Ich empfehle bei Kulturwandel-Prozessen immer, das grundlegende Design intern vorzudenken oder maximal in Co-Creation mit einer Beratung zu erarbeiten, die ein individuelles Konzept erstellt und nicht mit vorgefertigten Lösungen kommt. Allein aus Skalierungsgründen würde ich immer mit Externen arbeiten, diese aber sehr sorgfältig auswählen und Dinge wie beispielsweise Haltung oder Begrifflichkeiten gut abstimmen. Es braucht auch Kompetenz und einen guten Überblick über das Feld, um gute Berater:innen auszuwählen. Ansonsten besteht die Gefahr, das Zepter für das Vorhaben ganz aus der Hand zu geben, und das kann nicht im Interesse des Unternehmens und der nachhaltigen Begleitung der Veränderung sein.

Maike Küper
ist Beraterin für Organisations- und Kulturentwicklung sowie Agile Coach. Vor ihrer Selbstständigkeit war sie unter anderem Organisationsentwicklerin bei Dr. Oetker.
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Zwei Seiten derselben Medaille

„Der größte Nachteil einer internen Change- Beratung ist: Sie ist nie neutral. Ein unbefangener Blick und Rat werden zwar gerne postuliert, aber in der Praxis weder durchgehalten noch im Ergebnis erreicht. Hierbei mangelt es nicht an der guten Absicht und professionellen Herangehensweise interner Change-Berater:innen. Diese sind in der Regel gut ausgebildet, hoch motiviert und mit guten Absichten am Werk. Die internen Change-Berater:innen können sich aber weder zügig noch nachhaltig aus ihrer Verbindung zum gegebenen Organisationsrahmen freimachen. Denn das ausgerufene Ziel wird, einfach gesprochen, im Lichte der eigenen Erfahrung beurteilt. Dieser nicht von der Hand zu weisende Nachteil wird von externen Change-Beratern angeführt, die sich um Beauftragungen durch die im Wandel befindenden Organisationen bemühen.
Der größte Nachteil ist aber auch der größte Vorteil der internen Change-Beratung: Sie ist nicht neutral. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Interne Change-Berater:innen agieren und denken auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen in der Organisation. Ein ausgerufenes Ziel wird mit dem tiefen Wissen zu wirksamen Erfolgsfaktoren bezüglich der bestehenden Kultur bewertet, Konsequenzen für betroffene Mitarbeitende zügig und treffsicher abgeschätzt. Während externe Change-Berater:innen gegebene Rahmenbedingungen erst aufwendig erheben müssen, kennen interne Change-Berater:innen relevante Gegebenheiten gut. In Summe kann dies ein entscheidender Erfolgsfaktor sein, der auch dazu führt, dass die eigene Change-Beratung in der Organisation – je nach Zielstellung – mehr Vertrauen genießt.

Sarah Schroeder
ist Bereichsleiterin der Unternehmensentwicklung, des Projektmanagements und Prozessmanagements bei der Nürnberger Versicherung
»Sarah bei LinkedIn

 

changement! Heft 09/2023

 

 

Mindset – einfach ad acta legen

In vielen Unternehmen heißt es häufig: „Wir müssen ans Mindset ran.“ Dem liegt meist die Annahme zugrunde, dass die Veränderung des Mindsets der Mitarbeitenden der Schlüssel für eine erfolgreiche Transformation ist. Doch das Mindset von Menschen ändert man nicht so einfach. Es ist tief verwurzelt im Kontext, in der Umwelt, in der Persönlichkeit. Vielleicht sollte man gar das Mindset der Menschen ohnehin einfach in Ruhe lassen – sieben Thesen zum Mindset.

Agile, Digital, Serendipity oder Outward Mindset: In den Organisationen sind die Mindsets los. In den Unternehmen werden ebenso lieber Mindsets transformiert als Strukturen verändert. In der Suchmaschine Google suchen schließlich Tausende im Monat nach Begriffen wie „Erfolgs-Mindset“ oder „Money-Mindset“. Doch wie bekommt man so ein „neues Mindset“, wenn man ein unpassendes hat? Wer hat die Administratorrechte für die „Master-Mindset-Einstellung“? Natürlich niemand.

Meine Überzeugung: Mit Mindset, der Denk- und Handlungslogik also, macht man Geld, aber keine Veränderung. Hier kommen sieben Thesen – und was wirklich hilft.

1. Mindset braucht Empathie

„Wenn ich nur könnte, würde ich einen Deal mit Gott machen und ihn dazu bringen, unsere Plätze zu tauschen“, singt Kate Bush in „Running up that hill“. Der Song sollte einmal „A deal with god“ heißen – und startete kürzlich in einer Netflix-Serie seine zweite Karriere.

Es geht darum, dass Kate Bush wissen möchte, wie es sich anfühlt, so eine coole Socke wie ihr Lover zu sein. Sie will dessen „Mindset“. Das geht natürlich nicht.

Genauso wenig kann sich die Führungskraft eines Konzerns einfach das Mindset eines Start-up-Gründers draufladen. Was aber geht, ist sich einzufühlen. Dann merkt man auch, wie verschieden die Bedingungen doch sind. Und dass das Denken und Handeln anderer Menschen nur als Produkt ihrer Gen-Umwelt-Interaktion zu verstehen ist.

Es gibt zwei Coaching-Fragen, die nur zusammen funktionieren. Die erste lautet: Wen bewundern Sie? Die zweite: Wie würde diese Person das Problem/die Frage/die Herausforderung sehen, die Sie gerade haben?

2. Mindset entsteht im Kontext

Womit wir beim nächsten Punkt wären. Nur unter der andalusischen Sonne habe ich auch das legere Beach-Mindset. Es passt nicht in unser Hamburger Büro. Die Denk- und Handlungslogik eines Menschen ist geprägt durch seine Umgebung. Das gilt auch für das Klima, im direkten und indirekten Sinn – also auch das Unternehmensklima. Deshalb macht es viel mehr Sinn, den Kontext zu verändern, als sich an der Umstellung des Denkens von Menschen zu versuchen. Die Einstellungen springen sonst immer wieder auf „Default“, den Standard-Modus.

3. Mindset braucht Systemdenken

Und das führt mich direkt zum nächsten Aspekt. Die Logik der Systeme, in denen wir agieren, bestimmt die Art, wie wir denken und handeln – und sie tun es auch noch, wenn wir es anders entscheiden wollen: Wir möchten zum Beispiel zum Team dazugehören; wir teilen eine Vergangenheit. Das alles ist mächtig, unlöschbar. Denn dadurch haben sich Muster ausgeprägt, die aufgrund von laufenden Wiederholungen existieren. Diese Muster überdauern jedes Mindset-Training. Deshalb ist es wichtig, sich diese bewusst zu machen. Was beeinflusst unser Handeln wirklich? Muster erkennen heißt, entscheiden zu können, sie aufzulösen.

4. Mindset ist „Fühlset“

Das Fühlen kommt vor dem Denken. Und wenn wir etwas verändern, bedeutet das stets auch, eine Konfrontation mit unseren Gefühlen wie Angst, Trauer, Wut oder Freude. Gefühle wollen gefühlt werden – einfach darüber hinwegzugehen auf der Jagd nach dem „Elon-Musk-Mindset“ kann nicht gelingen. Es macht den meisten Leuten Angst, sich auf etwas Neues einzulassen. Jede Transformation wird deshalb von Versagensängsten begleitet, von Unsicherheiten, von Scham. Das ist eine Voraussetzung, damit ich mich überhaupt auf neues Denken einstellen kann. Wer das leugnet, produziert roboterähnliches Verhalten oder Versagensgefühle.

5. Mindshifts sind identitätsverändernd

Jede Veränderung des Denkens ist eine Veränderung der Identität.

Es geht von „ich bin“ zu „ich war“. Welche nachhaltige Wirkung dieser kleine Shift hat, ist Change-Planern oft nicht bewusst. Nehmen wir beispielsweise die agilen Rollen, die mit anderem Verhalten einhergehen sollen: Das bedeutet auch, dass ich Abschied nehme von dem Status einer Position oder der Macht der Kontrolle. Das ist alles andere als ein Selbstläufer – und in den gewohnten Strukturen oft gar nicht möglich. Dort passt man das vermeintlich Neue den vorhandenen Mustern einfach an.

6. Mindset ist Embodiment

Wir neigen dazu, unser Gehirn über alles zu stellen. Auch deshalb ist Mindset so beliebt – es ist in Gehirn-Nähe. Das ist die alte und überholte Vorstellung von der Überlegenheit des Kopfes. In Wahrheit jedoch ist es unser Körper, der lernt. Dort sind mentale Markierungen gespeichert, Erinnerungen.

Wenn wir neues Verhalten lernen, geht das nur über eine reflektierte Körpererfahrung. Andernfalls spulen wir Inhalte nur ab. Das Ergebnis sehen wir bei Führungskräften, die zwar bestimmte Kommunikationstechniken gelernt haben, diese aber nicht fühlen können. Die Folge ist ein professionelles, aber hohles Runterrattern von gelernten Phrasen, das beim anderen auch genau so ankommt.

7. Mindset ist paradox

 Mindset ist paradox. Es gibt kein Set-up, an dem eine „Einstellung“ vorgenommen werden kann, keine Knöpfe, die irgendjemand drücken kann, um eine Veränderung vorzunehmen. Auch nicht die betreffende Person selbst. Denn Mindset ist tief verwurzelt im Kontext, in der Umwelt, in der Persönlichkeit. Die Einstellung eines Menschen ist Produkt seiner Umgebung, erwachsen aus seinen vergangenen Erfahrungen. Diese Einstellung lässt sich auch nicht so einfach von der Persönlichkeit trennen, um daraus ein „fancy“ Innovations-Mindset zu machen. So ist Mindset vielmehr eine Vorstellung – vielleicht eine, die wir einfach ad acta legen sollten.

Es gibt keinen Deal mit Gott. Wir werden nie denken, wie jemand anderes denkt. Aber wir können uns inspirieren lassen. Wir können nicht kopieren, aber wir können unsere Perspektive erweitern. Das ist doch schon mal viel wert – und vielleicht auch entlastend.

 

changement! Heft 06/2023

 

 

Autorin

Svenja Hofert

ist Expertin für Potenzialentwicklung und Veränderung. Sie ist vielfache Buchautorin, Ausbilderin und Coach. Sie veröffentlicht zweimal im Monat den kostenfreien Newsletter „Weiter denken“ (https://svenjahofert.substack.com). Ihr aktuelles Buch „Mach dich frei! 100 mentale Modelle für klares Denken & bessere Lösungen“ erscheint im September bei Campus.
»Svenja bei LinkedIn

Hilkka Zebothsen über ihren Umgang mit Konflikten, das Vertrauen in das eigene Bauchgefühl und den besten Ratschlag, den sie je bekommen hat.

Was sagst du Menschen, die sich vor Veränderungen fürchten?

Zunächst mal, dass ich verstehe, dass Veränderung verunsichert – und manchmal auch nervt, weil man das Gefühl bekommen kann, nie anzukommen und einfach mal eine Weile den Status quo genießen möchte. Doch das Gute in der Gesundheitsbranche ist: Den Satz „Stillstand ist der Tod“ verstehen viele Menschen sofort. Und in der Medizin gibt es täglich große Fortschritte – insofern ist bei uns der Begriff „Veränderung“ meist positiv besetzt.

Was würdest du gerne noch lernen?

So vieles! Die Feinheiten von Moderation im agilen Arbeiten; die Abschaffung von Lampenfieber bei Vorträgen; die emotional mitreißende Konzeption im digitalen Storytelling; die konstruktive Nutzung von ChatGPT und Co.; die vermutlich typisch weibliche „Dauer-Lächel-Falle“ zu umgehen; mehr Freiräume zu schaffen, um endlich Bücher zu schreiben; Cello spielen, weil ich den Klang liebe; das Querlesen, um es beim privaten Schmökern wieder zu lassen. Und: Gelassenheit am Steuer. Ich bin eine sehr ungeduldige Autofahrerin.

Wie gehst du mit Konflikten im Job um?

Ich habe mühsam gelernt, nicht wie früher sofort alles anzusprechen, sondern zunächst für mich allein zu ergründen, wo der wahre Kern des Konflikts vermutlich liegt: Geht es wirklich „nur“ um die Sache, meine Rolle oder mich als Person? Wo kann ich selbst überhaupt aktiv ansetzen und was ist vergebene Liebesmüh? Was will und braucht mein Gegenüber? Erst dann setze ich auf Austausch und mache mich dabei absichtlich nahbar und meine Vorüberlegungen transparent, um Missverständnisse zu vermeiden. Außerdem parke ich mein Auto immer etwa 1,5 Kilometer vom Büro entfernt – die Strecke nutze ich je nach Laufrichtung fürs innere Ankommen in den Tagesaufgaben oder zum Abschalten im Kopf.

Wo oder wie kommst du am besten zur Ruhe?

Ich zog in der Pandemie zurück in das Dorf meiner Kindheit in Schleswig-Holstein. Daher: beim Schreiben im Baumhaus von Bekannten am Waldrand; beim Sommerbaden im See, wo sich am Feierabend das halbe Dorf trifft; oder beim Meditieren daheim.

Worauf kannst du dich immer verlassen?

Auf mein Bauchgefühl. Auf die erste Reaktion in mir, die fast körperlich noch vor dem Denken einsetzt. Und den Rat einer meiner Schwestern, die im Leben ganz andere Dinge tut als ich und die bei Telefonaten ihr Interesse immer mit dem Satz einleitet: „Du kommst rein – und dann …?“

Welchen guten Ratschlag hast du schon mal bekommen?

„Wähle deine Kämpfe weise.“ Gelernt von einer Mentorin aus der Krisenkommunikation, die wusste, wie nachhaltig wir uns oft an den falschen „Triggern“ abarbeiten, und die sich systematisch immer wieder fragte, ob wir wirklich über jedes dargebotene Stöckchen springen sollten – oder Limbo nicht manchmal einfach schlauer ist.

 

changement! Heft 05/2023

 

Autorin

Hilkka Zebothsen
leitet bei den Asklepios Kliniken die interne Kommunikation. Außerdem unterrichtet sie nebenberuflich Krisenkommunikation sowie Dramaturgie und Stoffentwicklung für Buch und Film. Vor ihrer aktuellen Tätigkeit bei den Asklepios Kliniken war sie Polizeireporterin bei verschiedenen Hamburger Tageszeitungen. Sie war außerdem tätig in der Öffentlichkeitsarbeit bei Klinikträgern sowie einem Kinder-Hospiz und leitete die Redaktion eines Berliner Fachmagazins.
»Hilkka bei LinkedIn

Fünf Fragen an Kai Beckmann, Mitglied der Geschäftsleitung und CEO Electronics, Merck

Bislang hat sich im Change Management noch kein Konzept als ultimativ richtig erwiesen. Veränderungen in Organisationen verlaufen höchst unterschiedlich. Deshalb sind die Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke der Verantwortlichen auch so verschieden. Uns interessiert die persönliche Perspektive von erfolgreichen Managern und Managerinnen. Diesmal stellt sich Kai Beckmann unseren fünf Satzeröffnungen.

Meine bislang größte/wichtigste Business Transformation war …

… die erfolgreiche Transformation unseres Unternehmensbereichs Electronics, der bis 2021 noch „Performance Materials“ hieß. In den 1980ern sind wir zum Weltmarktführer für Flüssigkristalle aufgestiegen. Getrieben von der weltweiten Nachfrage nach Flachbildschirmen und Handy-Displays haben wir mit diesem Geschäft Umsatzrenditen von teilweise über 50 Prozent erzielt.

Die Branche hat sich in den vergangenen zehn Jahren jedoch massiv verändert: OLED-Bildschirme haben sich zusätzlich durchgesetzt, Flüssigkristallbasierende Bildschirme sind inzwischen Massenware und der Umsatz mit ihnen ist entsprechend deutlich gesunken.

Unser Umsatz bei Electronics insgesamt ist jedoch nicht gesunken, sondern gestiegen. Das ist uns gelungen, weil wir uns auf Neues eingelassen und den daraus resultierenden Veränderungen gestellt haben. Wir haben Stück für Stück ein neues Geschäftsfeld aufgebaut, dafür unsere Teams umgeschult, interne Strukturen angepasst und die passenden Akquisitionen getätigt. Heute sind wir ein wichtiger Teil der Lieferkette für Halbleiter und alle namhaften Chip-Hersteller, wie zum Beispiel Intel und TSMC, zählen zu unseren Kunden.

Veränderungen von Unternehmen sind aus meiner Erfahrung im Wesentlichen geprägt durch …

… sich verändernde Marktbedürfnisse. Damit meine ich nicht nur technologische, sondern auch ganz abstrakte Bedürfnisse, wie zum Beispiel die stetig steigende Bedeutung von Nachhaltigkeit und Transparenz entlang der gesamten Lieferkette. Zudem werden die Innovationszyklen immer kürzer. Daher muss eine Organisation diese frühzeitig erkennen und agil genug sein, um dann auch schnell handeln zu können.

Für uns bei Merck sind Wissenschaft und Technologie die Antwort auf sich verändernde Anforderungen im Markt. Voraussetzung hierfür ist immer die Fähigkeit zur Innovation. Führungskräfte müssen den Erfinder- und Unternehmergeist ihrer Teams fördern und sie dazu ermutigen, über den Tellerrand hinauszuschauen. Dazu gehört auch, dass wir in unseren eigenen Innovationsprozessen offen für Impulse von außen sind:

Die drei wichtigsten Erfolgsfaktoren von Change Management sind für mich 

  1. Sorgfältige Analyse: Zu Beginn ist es wichtig, im Detail zu analysieren, wo man steht. Das geht weit über die wirtschaftlichen Kennzahlen hinaus: Eine derartige Analyse muss auch Aspekte wie Kultur und die im Unternehmen vorhandenen Kompetenzen einschließen.
  2. Klare Zielvorgaben: Im nächsten Schritt muss dann das Ziel festgelegt werden. Wo wollen wir hin? Wie wollen wir miteinander arbeiten? Was muss erreicht werden? Wie soll dementsprechend die Zielstruktur aussehen?
  3. Etablierung einer Veränderungskultur: Und erst der dritte Schritt ist dann der Weg dazwischen. Wie komme ich vom Status quo zur Zielerreichung? Was sind hier die wichtigsten Meilensteine? Wen muss ich wann in welcher Form mitnehmen?

Grundsätzlich gilt: Eine Transformation ist nie vollständig abgeschlossen, Strukturen sind nie in Stein gemeißelt. Jede Organisation sollte agil und anpassungsfähig sein, denn nichts ist stetiger als der Wandel. Auch nach einer erfolgreichen Transformation erfolgt früher oder später die nächste Veränderung. Und für diese müssen alle bereit sein.

Nicht alles gelingt. Was ich bei Veränderungen in meiner Verantwortung künftig anders machen werde oder was ich durch Lernen aus früheren Fehlern heute bereits anders mache, ist …

… genügend Raum zu geben. Ich beschäftige mich seit jeher gerne damit, Lösungen für Probleme zu finden und gehe dabei auch gerne ins Detail. Unter Umständen kann das bei meinem Gegenüber jedoch die Kreativität und Eigenständigkeit einschränken, was allerdings nicht im Sinn der Sache ist. Deshalb halte ich mich öfters auch mal bewusst zurück.

Mein persönlicher Tipp an eine Führungskraft, die Verantwortung für ein Veränderungsprojekt übernimmt, lautet: …

… die Veränderung ist nie abgeschlossen. Erwecken Sie nicht den Eindruck, dass die Organisation nach einer erfolgreichen Veränderung in einen statischen Zustand zurückkehren würde.

Das Ziel ist am Ende nicht nur, Struktur A durch Struktur B zu ersetzen, sondern die Organisation bereit und fähig für Veränderungen insgesamt zu machen. Denn: Die nächste Veränderung kommt bestimmt.

 

 

changement! Heft 05/2023

 

Autor

Kai Beckmann
ist seit April 2011 Mitglied der Geschäftsleitung des Wissenschafts- und Technologieunternehmens Merck. Er ist verantwortlich für den Unternehmensbereich Electronics (zuvor Performance Materials), den er seit September 2017 als CEO leitet. Seit Oktober 2018 hat er auch die Verantwortung für den Standort Darmstadt und die interne Unternehmensberatung. Darüber hinaus fungiert er als Landessprecher Deutschland mit Zuständigkeit für Mitbestimmungsangelegenheiten.
Merck hat weltweit mehr als 64.000 Mitarbeitende und ist gegliedert in die Unternehmensbereiche: Life Science, Healthcare und Electronics.
»Kai bei LinkedIn

Ihnen hat das Format „5 Fragen an…“ gefallen? Hier finden Sie einen weiteren Beitrag dazu: „Caroline von Kretschmann: 5 Fragen zum Change Management“.

Maryna Feierabend über die innere Stimme, auf die man sich öfter verlassen sollte, ihre Faszination für Wasser und was ihr bei der Zusammenarbeit besonders wichtig ist.

Was sagst du Menschen, die sich vor Veränderungen fürchten?

Alles rund um uns und wir selbst sind in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess, auch wenn wir es manchmal nicht wahrnehmen. Ich würde den Menschen sagen, dass es sich zu fürchten nicht lohnt, gleichzeitig ist es aber absolut okay, manchmal Angst, Sorgen oder Zweifel zu haben. Wir haben eine innere Stimme, unsere Intuition, auf die sollten wir uns öfter verlassen. Die Furcht vor Veränderungen liegt meist in der Angst, etwas verlieren zu können oder verletzt zu werden. Vielmehr sollte man sich aber darauf konzentrieren, was man durch die Veränderung alles gewinnen oder bewirken kann. Ich würde den Menschen sagen: Bleibt optimistisch und geht mit offenen Augen durch die Welt.

Was würdest du gerne noch lernen?

Ich würde noch mehr über die Serendipität lernen, eine fast magische Kunst, die Zufälle, Menschen, Ereignisse, Fehler, Erfahrungen zu verknüpfen und daraus neue Ideen zu gewinnen. In einer sich so schnell verändernden Welt sind viele der aufkommenden Probleme so komplex, dass ein Großteil unserer Zukunft von Unerwartetem bestimmt werden wird. Ich möchte lernen, das Unerwartete zu erkennen und zu nutzen.

Was treibt dich im Beruf an?

Schon als Kind habe ich mich für das Thema Wasser interessiert. In der Grundschule habe ich Geschichten über einen Wassertropfen geschrieben, der um die Welt reist und eine außergewöhnliche Fähigkeit besitzt, sich zu verwandeln und anzupassen. Wasser hat sehr viele ungewöhnlich Eigenschaften und viele Geheimnisse. Wasser ist bis jetzt meine Passion geblieben. Ich bin Wasseringenieurin, Wissenschaftlerin und Netzwerkerin der Branche.

Wo oder wie kommst du am besten zur Ruhe?

Ich gehe schwimmen oder beschäftige mich mit Pflanzen im Garten.

Wo und wie vernetzt du dich am liebsten?

Die Menschen inspirieren mich. Ich vernetzte mich viel und sehr gerne. Aus diesem Grund initiiere und unterstütze ich Vernetzungsformate in meinem Freundeskreis und bei Hamburg Wasser. Ich gestalte und nehme auch teil an vielen nationalen und internationalen Veranstaltungen rund um die Themen Wasser und digitale Transformation. Vernetzung bedeutet für mich insbesondere, wie ich andere unterstützen kann. Es geht immer um ein Geben und Nehmen und natürlich um „Connecting the dots“.

Was ist dir in der Zusammenarbeit besonders wichtig?

Mehr als je zuvor müssen wir Menschen cross-funktional zusammenarbeiten, um gegen die aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel gemeinsam zu wirken. Auch hier können wir viel vom Wasser lernen: nicht nur an der Oberfläche bleiben, sondern die verborgenen Tiefen untersuchen (Neugier); die Unebenheiten des Geländes verstehen und ausgleichen (Flexibilität); ohne unseren Lauf zu verzögern, auch mal über die Steilwände in die Tiefe stürzen (Mut); Felsen, die im Verlauf im Weg sind, umfließen (Verträglichkeit); die Kraft besitzen, Tag und Nacht am Werk zu bleiben, um Hindernisse zu beseitigen (Ausdauer); uns mit anderen kleinen und großen Strömen verbinden (Vernetzung) und ganz gleich, wie viele Windungen wir auch auf uns nehmen müssen, niemals das Ziel aus den Augen verlieren (Purpose).

 

changement! Heft 04/2023

 

 

Autorin

Dr.-Ing. Maryna Feierabend
ist Referentin „Digitale Transformation“ bei Hamburg Wasser. Sie hat mehr als 25 Jahre Erfahrung in der Wasserbranche und kennt sie aus unterschiedlichen Perspektiven: der Forschung, der NGOs, der Start-ups, Privatunternehmen und aktuell aus der Perspektive eines Versorgungsunternehmens. Ihr Herz schlägt für die Innovation und digitale Transformation des Wassersektors.
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Prof. Dr. Christian Busch weiß, was es braucht, um Serendipität, also unerwartetes Glück, zu kultivieren. Wie es funktioniert, beschreibt er in seinem neuen Buch „Erfolgsfaktor Zufall – Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können“. Im Interview spricht er darüber, wie ein Serendipität-Mindset auch Change-Projekte vorantreiben kann.

Herr Busch, was genau ist Serendipität und wozu brauche ich sie?
Serendipität lässt sich am besten definieren als unerwartetes Glück, das sich aus ungeplanten Ereignissen ergibt, in denen unsere Entscheidungen und unser Handeln zu positiven Ergebnissen führen.

Das klingt noch recht abstrakt. Hätten Sie ein Beispiel für Serendipität?
Eines meiner Lieblingsbeispiele hierfür ist die Entstehungsgeschichte der Kartoffelwaschmaschine des weltweit führenden Herstellers von Haushaltsgeräten, Haier. Denn als Haier-Vertreter erfuhren, dass Landwirte Haiers Waschmaschinen zur Kartoffelreinigung nutzten, passten sie die Maschinen schnell an. Damit die Teile mit dem zusätzlichen Schmutz fertigwerden konnten, den die Kartoffeln produzierten und der die normalen Maschinen überforderte. Hier wurde aktiv ein unerwartetes Kundenbedürfnis, das per Zufall bekannt wurde, aufgegriffen und mit der Entwicklung der „Kartoffelwaschmaschine“ aktiv Glück geschaffen – also Serendipität genutzt.

Gibt es ein Serendipität-Mindset bei Menschen?
Als ich anfing, erfolgreiche Geschäftsleute zu studieren, ist mir schnell aufgefallen, dass sehr viele von ihnen erklärten, sie hätten einfach Glück gehabt. Das Glück, von dem hier gesprochen wird, ist allerdings nicht blindes Glück, wie es auftritt, wenn man beispielsweise in eine reiche oder arme Familie geboren wurde. Diese Geschäftsleute verstanden es, wie bei der Kartoffelmaschine, aus Zufällen aktiv Glück zu schaffen und damit den Erfolgsfaktor Zufall zu nutzen.

Also haben sich diese erfolgreichen Geschäftsleute aktiv zu Glückspilzen gemacht?
Das ist eine gute Frage. In einem meiner Lieblingsexperimente wurden Unterschiede zwischen zwei Menschentypen untersucht. Die einen sahen sich eher als Glückspilze und wiesen so etwas wie ein Serendipität-Mindset auf. Die anderen sahen sich eher als Pechvögel, ihnen fehlte eher dieses Serendipität-Mindset. Die Leute sollten eine Straße runterlaufen, in ein Café reingehen, sich einen Kaffee holen und danach mit der Versuchsleitung sprechen. Was die Forschenden den Leuten nicht gesagt haben: Auf dem Weg und im Café waren versteckte Kameras, vor dem Café lag ein Geldschein und im Café war direkt neben der Theke ein Tisch, an dem ein unglaublich erfolgreicher Geschäftsmann saß.

Was ist passiert?
Eine Person mit Serendipität-Mindset geht die Straße runter, sieht den Geldschein, hebt ihn auf, geht ins Café, bestellt sich einen Kaffee, setzt sich an den Tisch direkt an der Theke, spricht mit dem Geschäftsmann und erhält eine Visitenkarte. Die unglückliche
Person ohne Serendipität-Mindset geht auch die Straße runter, sieht den Geldschein nicht, geht ins Café, bestellt sich einen Kaffee, setzt sich auch an den Tisch direkt an der Theke und ignoriert den Geschäftsmann. Am Ende des Tages werden beide gefragt, wie der Tag so war. Glückspilze sagen, es war ein perfekter Tag: Ich habe Geld auf der Straße und einen neuen Freund gefunden, durch
den ich potenziell eine neue Geschäftsmöglichkeit habe. Pechvögel sagen nur, es war ein ganz normaler Tag: Heute ist nichts passiert. Und genau das ist das Spannende: Je nachdem, ob eine Person ein Serendipität- Mindset hat oder nicht, können in der gleichen Situation völlig andere Ergebnisse entstehen.

Was fördert beziehungsweise behindert Serendipität in der Arbeitswelt und ganz besonders in Projekten?
Hier sehe ich zwei Ebenen, die individuelle und organisationale, die fördernd oder hinderlich sein können. Auf individueller Ebene können vor allem Ängste, beispielsweise vor Zurückweisung, und starre Vorstellungen darüber, wie Dinge zu funktionieren haben, Serendipität behindern. Förderlich sind wiederum Neugierde, Aufmerksamkeit und Improvisationsfähigkeit.

Auf organisationaler Ebene geht es darum, eine Kultur zu schaffen, in der Serendipität erlaubt wird. Dabei sind psychologische Sicherheit und die Fähigkeit einer Organisation, neue Informationen in existierende Strukturen und Prozesse zu integrieren, entscheidende Erfolgsfaktoren. Haben Beschäftigte Angst davor, über Fehler oder unerwartete Ereignisse zu sprechen, weil kein Raum für Lernen und Anpassen der Arbeitsprozesse gegeben ist, wird es sehr unwahrscheinlich, dass Zufälle gewinnbringend für Innovationen genutzt werden können.

Hätten Sie einen Tipp, wie man individuell Serendipität fördern kann?
Eine einfache Möglichkeit, individuell für mehr Zufallsmomente zu sorgen, sind Serendipitätshaken. Fragt man beispielsweise Oli Barrett, einen in London ansässigen Unternehmer: „Was machen Sie beruflich?“, sagt er in etwa: „Ich liebe es, Menschen zu verbinden, arbeite im Bildungssektor und beschäftige mich seit Kurzem mit Philosophie. Und Klavier spiele ich besonders gern.“ Diese Antwort enthält vier Haken: eine Leidenschaft (Menschen zu verbinden), eine Berufung (Bildung), ein Interesse (Philosophie) und ein Hobby (Klavierspielen). Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Gegenüber eine Ähnlichkeit entdeckt, die die beiden verbindet. Das Gute an der Methode ist, dass sie in unterschiedlichsten Kontexten, sei es auf einer privaten Party oder in einem geschäftlichen Meeting, sofern es die Arbeitskultur in der Organisation hergibt, genutzt werden kann.

Welche Rolle spielt der Zufall bislang in Change-Projekten in Organisationen?
Er wird schnell als etwas Lästiges, das einem in die Quere kommt und extra Arbeit macht oder direkt als Bedrohung bewertet. Ich habe in Organisationen immer wieder beobachtet,
wie bei Change-Projekten recht straffe Pläne geschmiedet werden, wann welche Prozesse einzuleiten und abzuschließen wären. Solche Pläne haben wiederum häufig zur Folge, dass nach dem Prinzip „alles muss nach Plan laufen“ gearbeitet wird statt sich auf den tieferen Sinn, wohin das Change-Projekt langfristig führen soll, zu konzentrieren und entsprechend Pläne auch anzupassen.

Was tun Sie bei Ihren unterschiedlichen Projekten, sei es als Wissenschaftler oder CEO, um in Ihren Teams den Erfolgsfaktor Zufall nutzbar zu machen?
In meinen unternehmerischen Führungspositionen habe ich meine Aufgabe vor allem darin gesehen, das individuelle Potential aller Beschäftigten zu verstehen und mir die Frage zu stellen, was es braucht, um dieses ideal nutzen zu können. Ich bin der Überzeugung:

Fragen zu stellen, ist entsprechend damals wie auch heute als Wissenschaftler meine Haupt- und Lieblingsbeschäftigung. So entsteht der nötige Austausch, um dem Erfolgsfaktor Zufall eine Chance zu geben.

Was sollte aus Ihrer Zufall-Sicht bei der Projektplanung und Projektleitung unbedingt vermieden werden?
Zum einen sollte vermieden werden, Projektpläne als unbedingt genau abzuarbeitende Anforderungskataloge vorzugeben. Denn damit erklärt man unerwartete Ereignisse oder den Zufall von vornherein zur Bedrohung. Zum anderen sollten Change-Projektleitende klar kommunizieren, den Beteiligten in einigen Bereichen schlichtweg keine Planungssicherheit liefern zu können. Es ist entscheidend, diese potentielle Instabilität durch Change gemeinsam auszuhalten und Wege der Unterstützung zu finden. Denn Menschen sind nicht per se gegen Veränderung. Menschen sind nur oft eher darauf bedacht, nicht zu verlieren als zu gewinnen. Viele Unternehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, formulieren zu diesem Zweck die Notwendigkeit einer Veränderung so um, dass die größere Gefahr darin besteht, sich nicht zu verändern. Wenn allen Beteiligten klar ist, dass die Veränderung dringend ist und sich lohnt, dann geht es darum, gemeinsam den maximalen Gewinn zu erzielen. Dazu gehört auch, den Erfolgsfaktor Zufall zu nutzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dr. Christina Guthier.

 

changement! Heft 03/2023

 

Autor

Prof. Dr. Christian Busch
ist Direktor des CGA Global Economy Programs an der New York University und lehrt auch an der London School of Economics und Political Science. Er ist regelmäßiger Redner auf Konferenzen wie dem Weltwirtschaftsforum (WEF) und TEDx sowie Mitglied des WEF-Expertenforums, Ehrenmitglied der Royal Society of Arts und steht auf der Thinkers50-Radar Liste. Über seine Arbeit berichteten bereits unter anderem Harvard Business Review, Forbes und BBC. Sein Buch „Erfolgsfaktor Zufall: Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können“ erschien am 28. Februar 2023 bei Murmann.
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Veränderungsprojekte misslingen häufig. Studien liefern dafür gute Gründe. Doch worauf führen Change-Verantwortliche selbst ihr Scheitern zurück? Dieser Beitrag versammelt anonymisierte Stimmen, die ungeschminkt von ihren Pleiten berichten: Fuck-ups.

Wer immer dafür wirbt, dass Change-Projekte nicht ohne professionelle Unterstützung gelingen, verweist auf einschlägige Studien. Die belegen in schöner Regelmäßigkeit, dass bis zu 70 Prozent aller Veränderungsprojekte nicht die Ziele erreichen, die sie sich gesteckt haben.

Auch die Gründe ähneln sich. Am häufigsten zitiert werden die acht Ursachen, die John Kotter in seinem Klassiker „Leading Change“ für das Scheitern von Change-Projekten verantwortlich gemacht hat. Zur Erinnerung: das Versäumnis, die Dringlichkeit der Veränderungsmaßnahme darzulegen, eine starke Führungskoalition zu bilden, eine Vision der Veränderung zu vermitteln, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, kurzfristige Erfolge systematisch zu planen sowie die zu frühe Verkündung des Abschlusserfolges und die ausbleibende Verankerung der Veränderungen in der Unternehmenskultur.

Die Unternehmensberatung BearingPoint kam bei der Befragung von 300 Schweizer Change-Verantwortlichen im Jahr 2021 auf sechs Handlungsfelder, in denen Fehler zum Scheitern von Veränderungsprojekten führen:

1 Kultur/Mentalität: Emotionaler Widerstand aufgrund mangelnden Verständnisses

2 Leadership: Mangelnde Führung und Unterstützung

3 Kommunikation: Fehlende Klarheit

4 Menschen/Fähigkeiten: Begrenzte Ressourcen und mangelndes Know-how

5 Struktur/Prozesse: Fehlende Ausrichtung auf Wandel

6 Umsetzung: Mangel an Vision, Strategie, Zielen und klar definierter Roadmap

Doch wovon berichten Projektleitende und Change-Verantwortliche im persönlichen Gespräch, wenn es darum geht, was die größten Fehler und Niederlagen ihrer Laufbahn waren? Und wenn, wie in diesem Fall geschehen, man ihnen bei Veröffentlichung absolute Anonymität zusichert? Folgende Beispiele und Erfahrungen kamen in den anonymen Gesprächen zutage.

Homeoffice-Einführung setzt nur auf Regeln

Person A berichtet von einer überstürzten Einführung von Remote Work im Zuge der Corona-Krise. „Da haben wir im Tagesrhythmus Verhaltensregeln, Durchführungsanweisungen und Techniktipps rausgehauen. Doch in den Köpfen lebte die Präsenzkultur weiter.“ Das habe natürlich bereits die Arbeit aus dem Homeoffice heraus überschattet – und zwar sowohl von Seiten der Führungskräfte, die um Kontrolle rangen, als auch von Seiten der Mitarbeitenden, die Leistungsnachweise höher gewichteten als Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Kein Wunder, dass nach Abklingen der Epidemie sofort wieder eine Präsenzpflicht eingeführt wurde.

Das aber hätte verhindert werden können. „Wir hätten das technische Einführungsprojekt einfach mit einem echten Veränderungsprozess begleiten müssen“, berichtet die Person. „Da hätte es genügt, die Remote-Erfahrungen zu reflektieren und mit Führungskräften wie Mitarbeitenden zu besprechen. Im Anschluss hätten wir entsprechende Kommunikationsskills und kooperative Führung schulen können – und die Welt sähe heute bei uns anders aus.“

Innovationsinitiative demotiviert im Bestandsgeschäft

Person B berichtet von einer großen Change-Initiative, die ein mutmaßlich träge gewordenes Familienunternehmen hin zu einer Innovationshaltung führen sollte. „Da haben wir die Leute mit Silicon-Valley-Narrativen überschüttet, Innovationsinseln gebaut, dort die Leute experimentieren und Geld verbrennen lassen – und noch dazu den Kolleginnen und Kollegen in einem immer noch sehr soliden Bestandsgeschäft suggeriert, sie hätten die Zeichen der Zeit nicht verstanden, sie seien zu träge, zu rückwärtsgewandt und ohnehin mehr oder weniger ein Auslaufmodell.“

Das führte natürlich im Bestandsgeschäft zu Frustration, riss Gräben auf und erzeugte Kämpfe um Anerkennung und Ressourcen. Auch erwies sich dieses Vorgehen als in keinster Weise hilfreich: Den Innovatoren fehlte die Rückkopplung in die Bestandsbereiche, die Innovationslust der Bestandsbereiche wurde ausgemerzt und führte zu Kündigungen oder innerer Emigration. „Dabei wäre es so einfach gewesen“, erzählt die Person. „Wir hätten nur den Gedanken der Ambidextrie leben müssen, nämlich dass es bei uns beides braucht: Exploration und Exploitation, Innovation und Effizienz. Und wir hätten beides wertschätzen und eine Durchlässigkeit zwischen den Bereichen ermöglichen müssen.“ In diesem Fall setzte sich Einsicht durch – und im genannten Sinne wurde, allerdings für viele zu spät, nachgesteuert.

Kommunikation, die keiner braucht

Person C berichtet: „Wir haben bei der Einführung eines wichtigen Teils einer Personalstrategie eine unglaubliche interne Kommunikation dazu aufgesetzt. Und uns dann gewundert, dass es scheinbar niemanden interessiert hat. Da waren wir einfach zu produktverliebt und haben viel Energie und Begeisterung in etwas gesteckt, was aus Sicht unserer Stakeholder überhaupt nicht von Relevanz war.

Person D, die immer wieder als externe Kraft Change-Projekte begleitet, erzählte uns: „Ich habe ohne vorherige Stakeholderanalyse und Einschätzung der Gesamtsituation am Kick-off eines großen Projektes teilgenommen. Ein sachlicher Verweis von mir zu bestehenden Risiken hat dann unerwartet heftige Kritik losgetreten.“ Die geplante Veränderung war offenbar schon im Vorfeld sehr kritisch diskutiert worden. „Das hätte ich vorab recherchieren müssen. Es hat mir gezeigt, wie emotional auf Fakten reagiert wird und wie das objektive Urteilsvermögen in den Hintergrund rückt. Es wäre gut gewesen, die Situation im Vorfeld besser zu analysieren und die Risiken zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Rahmen anzusprechen.

„Den Fuck-up-Kult sehe ich kritisch”

Wie umgehen mit Fehlern und Scheitern in Change-Prozessen? Professorin Ilka Heinze hat dazu eine klare Meinung.

Zu scheitern schmerzt und verunsichert, auch in Veränderungsprojekten. Wie sollten Change-Verantwortliche damit umgehen?
Zuerst möchte ich betonen: Ich halte die Verherrlichung des Scheiterns für naiv und gefährlich. Fuckup- Nights und andere Moden sehe ich eher kritisch. Denn Fehler zu machen und zu scheitern, hat Auswirkungen auf die Betroffenen, die mit lockeren Sprüchen und unreflektierten Gruppenevents nicht zu bewältigen sind.

Was macht denn Scheitern mit Menschen?
Ich habe dazu unter Gründern geforscht. Da bin ich auf vier grundlegende Arten gestoßen, mit dem Scheitern umzugehen. Dabei geht es immer darum, dem Scheitern einen Sinn abzugewinnen und im Idealfall aus den Fehlern zu lernen.

Wie würden Sie diese vier Arten beschreiben?
Da gibt es Personen, die das gründlich analysieren, emotional wenig an sich heranlassen und Sachgründe finden, warum das Vorhaben gescheitert ist. Auf der Basis können sie ihren Frieden damit machen, lernen aber für sich selbst eher wenig. Dann gibt es die, die unter dem Scheitern und den Folgen leiden. Die stecken im Loch und grübeln. Die sind zu Veränderungen und Schlussfolgerungen gar nicht in der Lage – zumindest noch nicht. Die dritte Art, mit Scheitern umzugehen, ist eher sportlich: Hinfallen gehört dazu, aufstehen und weitermachen. Diese Personen reden befreit über ihr Scheitern, entwickeln sich dabei aber als Person kaum weiter. Die vierte und beste Art damit umzugehen, legen jene an den Tag, die das Scheitern intensiv reflektieren, ihr Verhalten anpassen und ändern wollen. Sie gehen Projekte nicht nur deshalb an, um Erfolge zu erzielen, sondern auch, um zu lernen.

Einen Wandel nicht herbeizuführen, den ich herbeiführen sollte, wird aber Change-Verantwortlichen kaum verziehen. Was tun?
Da sehe ich zwei Ansatzpunkte. Erstens: Die Balance zwischen Minimierung der Fehlerquellen und dem Lernen aus dann doch gemachten Fehlern zu finden. Agile Herangehensweisen, die Projekte iterativ gestalten und damit auch Fehler und Möglichkeiten zu scheitern überschaubar halten, sind ein guter Weg. Dann braucht es aber auch eine andere Einstellung zu Veränderungsprojekten.

Welche wäre das?
Wir sollten ehrlicher sein. Veränderung ist ein komplexes Anliegen, hier sollten die Lernchancen für alle Beteiligten betont werden. Gerade bei gemeinschaftlichen Veränderungsprojekten können Sie ja nicht nur mit Typ 3 oder 4 die Veränderung betreiben. Da müssen alle ins Boot, und alle sollten das Nötige dabei lernen. Und alle müssen übrigens genauso konsequent verlernen, was an Verhaltens- und Herangehensweisen dem Neuen im Wege steht. Change-Manager sollten sich daher zunehmend auch als Lern- und Verlern-Coaches verstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Randolf Jessl.

 

changement! Heft 03/2023

 

Autoren

Randolf Jessl
ist Geschäftsführer der Beratungsagentur Auctority. Er berät, trainiert und coacht an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen.
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Prof. Dr. Ilka Heinze
ist Professorin für Wirtschaftspsychologie und Management an der Hochschule Fresenius. Sie hat zu Lernstrategien von gescheiterten Entrepreneuren promoviert.
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Jede Veränderung ist anders – auch ihr Scheitern. Dennoch lassen sich manche Ursachen für den Misserfolg besonders oft in Unternehmen beobachten. Im Beitrag „Warum Change häufig scheitert“ sind sieben Punkte für das Scheitern von Change.

„Corona-General“ Carsten Breuer zu den Learnings, die er bei der Koordinierung der Impfkampagne sowie in Bundeswehrprojekten gemacht hat.

Ihr Tätigkeitsspektrum erstreckt sich von Kampfeinsätzen bis hin zu Organisationsprojekten. Wie befruchtet das eine das andere?

Wir Soldaten können Krise. Wir sind dazu ausgebildet, im Unbekannten zu agieren. Wir nutzen dazu die Auftragstaktik, das Führen mit Auftrag. Das setzt Vertrauen in die Fähigkeit jedes Einzelnen voraus. Und wir fragen nicht nach Zuständigkeit, sondern wir übernehmen Verantwortung. Das ist das, was ich überall in meinen verschiedenen Aufgabenbereichen erfahren habe. Unter Beschuss in Afghanistan genauso wie bei Übungen oder im Hochwasser.

Was brachte die Wende bei der stockenden Corona-Impfkampagne?

Der Krisenstab im Bundeskanzleramt war ein Novum – ressortübergreifend. Wichtig war, zunächst ein gemeinsames Lagebild mit Bund und Ländern zu erzeugen. Dann sind wir sehr schnell in die Führung und das konkrete Koordinieren eingestiegen – mit den Bundressorts und den Ländern. Deutlich wurde bei alldem: Man muss den Mut haben, eingefahrene Wege zu verlassen, Lösungen neu und mit anderer Perspektive zu denken, aber auch Bekanntes in neuen Situationen anzuwenden. So war die Durchführung eines „Wargamings“ sicherlich etwas, was uns allen die Augen geöffnet und neue Wege aufgezeigt hat.

Worum geht es bei der Neuaufstellung Territoriales Führungskommando?

Ziel ist die durchgängige nationale Führungsfähigkeit für den Einsatz deutscher Streitkräfte innerhalb unserer Landesgrenzen. Es kommt dabei darauf an, die Ärmel hochzukrempeln. Ohne Flexibilität geht das nicht. Eine Prozessverliebtheit, das Denken in gewohnten Prozessen, macht uns langsam. Wir haben flache Hierarchien geschaffen und Verantwortung gebündelt: Wir führen aus einer Hand. Das, was wir brauchen, ist Geschwindigkeit. Geschwindigkeit ist Zeitenwende.

Die Zeitenwende ist Change hoch zehn. Worauf kommt es an?

Es kommt darauf an, Mentalitäten zu verändern. Dies gelingt nur, indem wir kommunizieren, kommunizieren und noch mal kommunizieren. Ich habe noch nie so intensiv und in so vielen unterschiedlichen Formaten versucht zu überzeugen. Aber ich stelle auch fest, es reicht nie. Es kommt vor allem auch darauf an, dass man vor Ort ist, dass man an der Basis ist und sich ein Gespür dafür bewahrt, wie die Veränderungen bei den Menschen aufgenommen werden. Im Militärischen nennen wir das, den eigenen Blick ins Gelände zu haben und darauf Entscheidungen fußen zu lassen.

Wie erleben Sie die Fähigkeit in Deutschland, mit drastischen Veränderungen umzugehen?

Deutschland ist bekannt für seine Gründlichkeit. Das ist gut. Aber diese Gründlichkeit geht häufig auf Kosten von Geschwindigkeit. Wir müssen Tempo machen, denn wir sehen uns einem Krieg in Europa gegenüber. Einem Krieg, der unsere Freiheit bedroht und unsere Art zu leben infrage stellt. Es gilt für uns, schnell Strukturen so zu verändern, dass wir uns dem auch künftig entgegenstellen können. Wir müssen uns dazu von rigiden Prozessen und verkrusteten Strukturen lösen. Es geht jetzt nicht um Goldrandlösungen. Ganz häufig müssen wir ganz pragmatisch sein. Im militärischen Gefecht gilt immer: „Perfect ist the enemy of good enough.“

 

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Autor

Generalleutnant Carsten Breuer
hat sich als Koordinator der Corona-Impfkampagne einen Namen gemacht und ist zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Ausgabe mit der Neuaufstellung des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr betraut. Er soll zum Generalinspekteur der Bundeswehr und damit zum ranghöchsten Soldaten der Truppe berufen werden.