„Menschen mit geringen Fähigkeiten profitieren am meisten“

Mit der Veröffentlichung von ChatGPT hat das Thema Künstliche Intelligenz eine enorme Aufmerksamkeit bekommen. Mittlerweile wird KI auch in zahlreichen Unternehmen – im großen und kleinen Stil – eingesetzt. Der Arbeitsforscher und Wirtschaftswissenschaftler Carl Benedikt Frey spricht über den Wandel der Arbeitswelt durch Künstliche Intelligenz und welche Implikationen in den Unternehmen zu erwarten sind.

Herr Professor Frey, im Herbst 2022 hat OpenAI ChatGPT veröffentlicht. Viele haben diese Veröffentlichung als iPhone-Moment bezeichnet. Manche sprechen gar von einer technologischen Revolution, die bedeutender ist als die Entwicklung des Smartphones. Wie bewerten Sie heute mit etwas Abstand die Veröffentlichung von ChatGPT mit Blick auf die Wirtschaftswelt? Ist es der Beginn einer Revolution gewesen?

Was vor mehr als einem Jahr mit der Veröffentlichung von ChatGPT passiert ist, war eine Revolution dahingehend, dass sich damit die allgemeine Wahrnehmung von KI und davon, was diese in der Lage ist zu tun, grundlegend verändert hat. Auch die für die Menschen einfache Art, mit ChatGPT zu interagieren, in den Dialog mit der KI zu gehen, hat der Aufmerksamkeit enorm geholfen und war so etwas wie eine Revolution. Allerdings mit Blick auf die zugrundeliegende Technologie würde ich eher von einem evolutionären Prozess sprechen, der bereits in den 1950er-Jahren begonnen hat. Vor allem profitiert die heutige generative KI von den Innovationen in den 1990ern und den Jahren danach, als mehr Daten verfügbar wurden und die Forschung zum Beispiel zeigen konnte, dass neuronale Netze dank Deep Learning Sprache verstehen können.

Durch ChatGPT hat das Thema KI eine ganz andere Wahrnehmung erhalten, sagen Sie. Gilt das auch für die Führungsetagen in den Unternehmen? Würden Sie sagen, dass mit der Veröffentlichung von ChatGPT gerade die Vorstände und Geschäftsführungen auf KI aufmerksam geworden sind, weshalb jetzt tatsächlich auch mit KI gearbeitet bzw. experimentiert wird?

Das kann man so sagen. Ich sehe Parallelen zur Technologie der Dampfmaschine. Thomas Newcomen hat die erste in den 1710er Jahren entwickelt. Es hat jedoch noch fünf Jahrzehnte gedauert, bis James Watt mit einem separaten Kondensator daherkam. Und erst durch diesen wurden Dampfmaschinen allmählich energieeffizient. Sie benötigten vorher viel zu viel Kohle, um im Transportwesen oder in Fabriken im großen Maßstab eingesetzt zu werden.

Und ich denke, bei der KI könnte man ebenfalls sagen, dass wir so etwas wie eine Art von „separatem Kondensationsmoment“ benötigen.

Auch wenn es noch etwas zu früh ist, eine endgültige Bewertung vorzunehmen, ist doch klar: Dieser Algorithmus ist nach wie vor extrem datenhungrig. Und er ist in Bezug auf den Großteil des Internets trainiert. Es gibt deshalb bei einigen die Sorge, dass uns erstens die Trainingsdaten ausgehen und zweitens es so viele KI-generierte Inhalte im Web geben wird, dass sich die Quelle für Trainingsdaten kontinuierlich verschlechtern wird.

Ich glaube also, dass wir mehr Innovationen brauchen, damit die KI aus kleineren, besser aufbereiteten Datensätzen lernen kann – basierend auf echtem Expertenwissen –, um anhaltende, nachhaltige Fortschritte zu sehen.

Das Erstaunliche ist, dass sich trotz der Datenschutzbedenken ganz viel tut in den Unternehmen. Generative KI wird bereits zum Beispiel eingesetzt im Wissensmanagement oder im Kundenservice. Die Erwartungen hinsichtlich des Nutzens der Technologie scheinen in der Wirtschaft groß zu sein.

Es gibt verschiedene experimentelle Studien, die alle Produktivitätssteigerungen im zweistelligen Prozentbereich für eine Vielzahl von Aufgaben zeigen. Und das ist nur der Anfang.

Es ist völlig klar, dass es für Unternehmen zwingende wirtschaftliche Anreize für den Einsatz dieser Technologie gibt.

Und gleichzeitig bestehen je nach Art des Unternehmens auch gute Gründe, seine Daten zu Geld machen zu wollen.

Wo, denken Sie, wird es durch den Einsatz der generativen KI die größten Veränderungen in der Arbeitswelt geben? Im Kundenkontakt, im Umgang mit Daten oder beim Erstellen von Texten und Konzepten?

Das ist schwer zu beurteilen und hängt davon ab, welche Zeitspanne man betrachtet.

Ich denke, dass wir in den nächsten Jahren vor allem bei der freiberuflichen Arbeit eine starke Automatisierung erleben werden.

Es gibt bereits Studien, die zeigen, dass viele Tätigkeiten, die mit der Bearbeitung von Texten, mit Übersetzungen oder mit Webdesign zu tun haben, stark beeinträchtigt sind. Und wir sehen schon jetzt, dass sowohl die Beschäftigungsangebote als auch die Höhe der Vergütung für diese Tätigkeiten auf den entsprechenden Online-Plattformen zurückgehen.

Schaut man sich jedoch die Arbeit innerhalb der Unternehmen an, ist das Bild etwas komplexer. Man kann die Anwendung der generativen KI als eine zusätzliche Research-Hilfe betrachten. Und je mehr Research-Unterstützung man hat, desto mehr kann man recherchieren, Informationen sammeln, aber desto komplexer wird auch das Arbeiten mit der KI, und desto mehr werden die Beschäftigten selbst zu Managerinnen und Managern. Ich denke also, dass es in vielen Unternehmen in Zukunft Spannungen geben wird, wenn es darum geht, herauszufinden, was der richtige Kompromiss ist, wie viel mehr man mit KI noch tun kann. Damit wird auch eine Art Komplexität geschaffen, wenn es darum geht, abzuwägen, wo KI unterstützen soll – und wo nicht.

Was denken Sie, wie groß die Veränderungen für die Arbeits- und Wirtschaftsgesellschaft im Ganzen sein werden im Vergleich zu früheren technologischen Umbrüchen?

Technologische Veränderungen hatten immer Umverteilungseffekte. Als das Auto erfunden wurde, ist eine ganz neue Industrie entstanden. Ich denke, dass die Künstliche Intelligenz nicht unbedingt so viele Arbeitsplätze und so große Betriebe schafft wie die Automobilindustrie, aber sie zieht sich durch alle Wirtschaftsbereiche. Wenn man zum Beispiel die Erstellung von Inhalten betrachtet, dann ist zu erwarten, dass einige „Superstars“ beispielsweise in den Bereichen Journalismus, Film oder Werbung in der Lage sein werden, mehr zu leisten, und dass sie infolgedessen einen größeren Marktanteil erobern werden.

Gleichzeitig gibt es aber auch verschiedene Studien, die zeigen, dass die Menschen, die am meisten profitieren, eigentlich Anfänger oder Menschen mit geringeren Fähigkeiten sind. Wenn Sie also ein, sagen wir mal, guter Content Creator bzw. Schreiber sind, dann nützt Ihnen ChatGPT nicht so viel. Sie können vielleicht ein bisschen schneller schreiben. Der größte Nutzen entsteht bei denjenigen, die sehr gut oder ziemlich schlecht sind. Vor allem Menschen mit geringen Fähigkeiten sind mit KI in der Lage, bessere Qualität zu liefern. Und das schafft natürlich neue Chancen und Möglichkeiten für diese Leute. Es kann aber auch den Wettbewerb verschärfen, weil eventuell mehr Content Creator in den Markt treten, die mithilfe von KI arbeiten.

Heißt das auch, dass es zu einem Abbau von Arbeitsplätzen kommen wird? Braucht es aufgrund von KI weniger Menschen, zum Beispiel um kreative Inhalte zu produzieren?

KI wird sicherlich für einige Branchen einen perfekten Sturm erzeugen, und die Medien sind eine dieser Branchen. Offensichtlich steht sie schon seit einiger Zeit unter dem Druck anderer Plattformen und Kommunikationsarten, wie etwa der sozialen Medien. KI verändert diese Branche in vielerlei Hinsicht.

Schaut man sich Technologien wie „autonomes Fahren“ an, erkennt man das riesige Potenzial der Automatisierung für die Zukunft. Es gibt viele Arbeitsplätze, die unter erheblichen Druck geraten werden. Und wahrscheinlich wird es zu einem größeren Verlust von Arbeitsplätzen kommen. Denken Sie zum Beispiel an Taxi-, Lkw- oder Busfahrer.

Generell gilt, wenn Sie eine Umgebung haben, die Sie selbst strukturieren, die Sie zielgerichtet auf Roboter ausrichten können, dann wird es mit der Zeit wahrscheinlich auch mehr Automatisierung geben. Das ist im Wesentlichen das, was in den Fabriken und in den Lagerhäusern passiert. In Bezug auf KI bietet die Automatisierung die größten Möglichkeiten hinsichtlich Optimierung, Produktivität und Effizienz. Und sie führt eben auch zu Veränderungen unter anderem in der Transportlogistik und in der Lagerhaltung.

Nun kommt die zunehmende Verlagerung von Arbeitsabläufen ins Internet dazu. Und natürlich wird dieser Prozess ebenfalls zu Veränderungen von Arbeitsplätzen führen, und wahrscheinlich auch zu Verlusten.

„Im Allgemeinen sieht es jetzt so aus, als ob KI menschliche Arbeit in vielen virtuellen Umgebungen ersetzen könnte“, heißt es auch in einem Forschungspapier von Ihnen und Michael A. Osborne …

Im Moment ist die Aufmerksamkeit stark auf der generativen KI. Die ist aber nur ein Teilbereich. Auf diesen bezieht sich die von Ihnen zitierte Aussage.

Generative KI wird immer besser darin, menschliche soziale Interaktionen im virtuellen Raum zu reproduzieren, was den Wert der persönlichen Kommunikation erhöht. In einer Welt, in der jeder seine Liebesbriefe mithilfe von KI schreibt, wird jeder ähnliche Liebesbriefe schreiben. Es gibt also keine Möglichkeit, sich durch das Schreiben großartiger Briefe von anderen abzuheben.

Und das Gleiche gilt unter anderem für den Kundenservice. Wenn alle Unternehmen auf der Welt KI für den Kundenservice einsetzen und man sich auf diese Weise nicht von der Konkurrenz abheben kann, muss man mehr auf die persönliche Kommunikation setzen, die meiner Meinung nach immer noch einen komparativen Vorteil darstellt.

Die generative KI verändert die Arbeitswelt auch insofern, dass mehr Menschen nicht nur Nutzer, sondern auch Gestalter werden. Der Umgang mit Technik ändert sich. Wie sehen Sie die Rolle der Menschen, wenn es um die Arbeit mit KI geht?

Ich glaube, dass sich die Arbeitsteilung zwischen Menschen und Computern in vielerlei Hinsicht ändern wird.

Das andere, was ich gerade erwähnt habe, ist, dass wir mehr Wert auf persönliche Kommunikation legen werden. Und KI wird nach und nach viele der Interaktionen bzw. Arbeitsschritte, die wir im virtuellen Raum durchführen, übernehmen. Ein weiterer Aspekt ist die Kreativität, die meiner Meinung nach in vielen Bereichen entscheidend ist.

Irgendjemand muss die KI immer noch anleiten. Und es überrascht nicht, dass KI bei Tätigkeiten, für die es eine klare Vorgabe gibt, recht gut abschneidet.

Wenn man ChatGPT bittet, einen Brief im Stile Shakespeares oder Schillers zu schreiben, bekommt man durchaus erstaunliche Ergebnisse. Aber der Grund, warum die KI das kann, liegt darin, dass Shakespeare und Schiller wirklich existierten. Wenn man jedoch etwas völlig Neues schaffen will, woran misst man dies? Was ist der Benchmark? Hier kommt dann die menschliche Kreativität ins Spiel.

Was würden Sie Menschen empfehlen zu tun, um in dieser neuen von KI geprägten Arbeitswelt erfolgreich zu sein oder zumindest mithalten zu können?

Ich bin kein Karriere-Coach. Aber:

Ich würde jeden ermutigen, die Möglichkeiten zu nutzen, die die KI bietet.

Mit Künstlicher Intelligenz kann jeder im Grunde seinen persönlichen Tutor an der Seite haben. Und es gibt eine Menge Bildungs- und Entwicklungschancen beispielsweise in Form von Online-Lernkursen, von denen viele kostenlos zur Verfügung stehen. Es gilt, kontinuierlich zu lernen und neugierig zu bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher

 

 

Autor

Carl Benedikt Frey
ist Arbeitsforscher und Wirtschaftshistoriker. Er ist „Dieter-Schwarz“-Professor für KI und Arbeit am Oxford Internet Institute und Fellow des Mansfield College der Universität Oxford. Außerdem ist er Direktor des Future of Work-Programms und Oxford Martin Citi Fellow an der Oxford Martin School.
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Permanent Meetings, E-Mails abarbeiten, auf Chat-Nachrichten reagieren: Der Joballtag fühlt sich für viele stressig an, konzentriertes Arbeiten wird zur Seltenheit. Der Neurobiologe Martin Korte erläutert, wie sich Stress auf das Gehirn auswirkt und welche Konsequenzen eine ungesunde Smartphone-Nutzung hat.

Herr Korte, kann man generell sagen, dass unser Leben und unsere Arbeit stressiger geworden sind?

Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Es kommt auf den Beruf an, auf die Firma und auf das Arbeitsklima. Was man sagen kann, ist, dass es mehr unnütze Zeit gibt, die man in Meetings verbringt. Die haben schon in der Pandemie um 17 Prozent zugenommen, sowohl hinsichtlich Länge als auch Häufigkeit. Zudem lässt sich feststellen, dass man mehr Informationen be- und verarbeiten muss als früher. Aber auch das wird letztlich nur stressbehaftet, wenn wir versuchen, Multitasking zu betreiben, was unsere Gehirne nicht richtig können.

Was ist Stress eigentlich und wie wirkt er sich auf den Menschen aus?

Stress ist ein Signal des Gehirns, über Hormone dem Körper mehr Energie zur Verfügung zu stellen. Es ist also ein elementarer und notwendiger Mechanismus unseres Lebens. Er wird erst bedenklich und hat negative gesundheitliche Auswirkungen, wenn er chronisch, also dauerhaft wird. Dann unterdrückt er das Immunsystem, was die Gefahr von Infektionskrankheiten erhöht, die Denkfähigkeit und vor allem die Kreativität einschränkt. Darüber hinaus kann es zu Angststörungen und sogar zu Depressionen kommen.

Ich höre von immer mehr Menschen, dass es ihnen schwerfällt, konzentriert ein Buch zu lesen, weil die Gedanken abschweifen oder permanent zum Handy gegriffen wird. Ist die mangelnde Konzentrationsfähigkeit ein gesellschaftliches Phänomen?

Da zu viele Menschen versuchen, permanent erreichbar zu sein und vergeblich Multitasking betreiben, führt dies zu einer selbstinduzierten Verkürzung der Konzentrationsfähigkeit. Das ist aber reversibel und wir können uns auch antrainieren, On- und Offline-Zeiten wieder stärker voneinander zu trennen.

Das Smartphone und das Internet spielen für uns alle im Privaten und im Job eine große Rolle. Was zeichnet eine Nutzung der digitalen Medien aus, die mehr schadet als nutzt?

Wir zahlen mit unserer Aufmerksamkeit. Die Apps auf den Endgeräten sind so programmiert, dass sie uns unbewusst belohnen, wenn wir diese verwenden. Es geht also um ein hohes Selbstkonditionierungs- und Suchtpotenzial. Das schadet, vor allem, wenn wir ständig versuchen, Multitasking zu betreiben. Und es schadet, wenn eine Monokultur entsteht, wenn aufgrund der Nutzung digitaler Medien zu wenig Zeit für Sport und soziale Kontakte bleibt.

Und wie wirkt sich eine digitale Reizüberflutung auf unser Gehirn und unser Denken aus? Was passiert da?

Es kommt zu einer chronischen Stressbelastung für das Gehirn, die die Fehleranfälligkeit erhöht, mehr Zeit kostet, die Kreativität einschränkt und das Risiko erhöhen kann, an Depressionen zu erkranken – all das nicht durch die Nutzung per se, sondern nur, wenn wir versuchen, Multitasking zu betreiben und die Nutzung zeitlich aus dem Ruder läuft.

Das konzentrierte, fokussierte Arbeiten gilt einerseits als wichtige Kernkompetenz für die Zukunft. Andererseits gibt es im Job auch ständig Ablenkungen durch Kollegen und Kolleginnen, E-Mails oder spontane Meetings. Was kann der Einzelne tun, wenn er merkt, es gelingt ihm kein fokussiertes Arbeiten?

Man braucht eine Arbeitskultur, die „rhythmisiert“ ist. Es sollte einen zeitlichen und auch örtlichen Wechsel zwischen konzentriertem „Unitasking“ sowie Phasen geben, in denen man sich Unterbrechungen durch Kollegen und Nachrichten stellen muss.

Das Paradoxe ist, dass solche Wechsel besonders gut gelingen, wenn man einige Stunden am Tag ohne Unterbrechung arbeiten kann – das gilt auch für Unterbrechungen durch Social-Media-Nachrichten.

Veränderungen der Routinen und Verhaltensmuster sind allerdings nicht einfach. Was können Sie empfehlen, wenn es darum geht, ein neues Verhalten zu erlernen und in den Alltag einzubauen?

Wichtig ist das sogenannte Precommitment: Am Arbeitsplatz liegt nur das, was man zum Arbeiten benötigt. Und zu Hause sollte das Handy in ein anderes Zimmer gelegt werden als in das, in dem man sich befindet. Dann hat man eine kleine Barriere, bevor man zugreift. Auch die ABC-Regel ist hilfreich: A steht für „Attention“, Aufmerksamkeit auf das richten, was man gerade tut; B bedeutet „Breath“. Das heißt, wenn eine digitale Nachricht eintrifft, erst mal durchatmen; C steht für „Choice“, also eine bewusste Entscheidung zu treffen, ob man sich durch Nachrichten unterbrechen lässt oder bei seiner Haupttätigkeit bleibt.

Nach 18 Uhr keine E-Mails mehr lesen, sich eine Zeit im Kalender blocken für konzentriertes Arbeiten, keine Notifications auf dem Smartphone: Das Reduzieren von Ablenkungen hat viel damit zu tun, Erreichbarkeit für andere zu reduzieren. Geht es nicht oft um Abgrenzung und Selbstfürsorge?

Genau das ist der Punkt. Es müssen sich nur alle diesem gemeinsamen Ziel anschließen. Ansonsten werden „heimlich“ bzw. „off the record“ Nachrichten ausgetauscht.

Was kann ein Unternehmen tun, um das fokussierte Arbeiten in einer Organisation zu unterstützen? Welche Rahmenbedingungen sind wichtig?

Zum Beispiel eine Kultur des zeitlich reglementierten On- und Offline-Arbeitens fördern und Bewusstsein dafür schaffen, was Multitasking mit uns macht.

Ich beobachte, dass viele Menschen in Meetings andere Dinge nebenher machen, wenn sie keinen aktiven Part haben. Aber Multitasking ist ja nicht möglich, wie Sie gesagt haben …

Genau, wir sind schlecht darin, es stresst und lenkt ab. Bei Board-Meetings von Apple müssen beispielsweise alle ihr iPhone am Eingang in eine Holzschale legen, bevor sie den Meeting-Raum betreten.

Welche Methode hilft Ihnen persönlich, im Joballtag konzentriert zu arbeiten?

Mein Handy liegt immer woanders. Wenn ich es nutzen möchte, muss ich aufstehen und es holen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 02/2024

 

Autor

Prof. Dr. Martin Korte
ist Professor für zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig und Direktor des Zoologischen Institutes. Er arbeitete für viele Jahre an denen für Hirnforschung (Frankfurt) und Neurobiologie (München-Martinsried) und habilitierte 2001 an der LMU München. Martin Korte erforscht die zellulären Grundlagen von Lernen und Gedächtnis ebenso wie die Vorgänge des Vergessens. Er ist einer der meistzitierten deutschen zellulären Neurobiologen.
Martin Korte ist außerdem unter anderem Fachgutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der EU sowie Buchautor. 2023 ist von ihm erschienen: „Frisch im Kopf: Wie wir uns aus der digitalen Reizüberflutung befreien“.
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„Die Projekte müssen schnell umsetzbar sein“

Die Nutzung von Daten ist heutzutage für den Geschäftserfolg eines Unternehmens von großer Bedeutung. Das gilt erst recht für Versicherungsunternehmen wie die Allianz. Susan Wegner ist bei dem Konzern Head of Group Data and AI. Im Interview spricht sie über die wichtigsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einsatz von Datenanalysen, wo die Allianz künstliche Intelligenz einsetzt und warum die Veröffentlichung von ChatGPT so wichtig gewesen ist.

Frau Wegner, „Daten sind das neue Öl”, heißt es oft. Ganz generell gefragt: Sind Daten wirklich so wichtig für den Geschäftserfolg von Unternehmen, wie allgemein angenommen wird?

Ja, absolut. Wobei wichtig ist, beides zu betrachten: die Produktion von Daten und ihre Verwendung. Das heißt: Bevor man als Unternehmen mit Data Analytics oder künstlicher Intelligenz anfängt, braucht man Daten. Wenn man auf diese nicht zugreifen kann, dann braucht man über alles andere nicht zu reden – auch nicht über den Einsatz von künstlicher Intelligenz.

Daten allein sind also noch kein „neues Öl“, wenn damit nichts gemacht wird.

Ja, nur Daten in einer Datenbank sind nicht wertvoll. Zum einen braucht es Technologien, um Erkenntnisse aus den Daten zu generieren. Und zum anderen braucht es das Know-how aus dem Business. Nur der Einsatz von Technologien reicht nicht.

Was würden Sie sagen, sind die wichtigsten Voraussetzungen, damit Daten in einem Unternehmen erfolgreich genutzt werden können?

Meiner Erfahrung nach ist der wichtigste Faktor, dass das Thema vom oberen Management getrieben wird. Denn es ist klar ein Change-Thema. Der zweite wichtige Punkt ist die Datenqualität, und die Daten gut zugreifbar zu machen. Als drittes würde ich die Applikationen nennen. Es muss ein einheitliches Verständnis darüber herrschen, welche Applikationen für das Business wertvoll sind. Und dafür ist eine gute Zusammenarbeit mit den Fachbereichen notwendig. Sie wissen, was benötigt wird, um das Geschäft voranzutreiben.

Und schließlich spielt die Kultur eine wesentliche Rolle. Es muss ein Mindset und eine Unternehmenskultur der Offenheit für das Thema bestehen. Es braucht die Bereitschaft, mit Daten zu arbeiten und die Bedeutung von Data Analytics für den Geschäftserfolg muss allen klar sein.

Die Technologie selbst ist für mich gar nicht mal eine entscheidende Voraussetzung. Daran scheitert in der Regel kein Data-Analytics-Vorhaben.

Und vermutlich muss Data Analytics dem Business auch einen echten Mehrwert bieten, damit die Fachbereiche überhaupt bereit sind, sich darauf einzulassen.

Mit Sicherheit. Deshalb ist es auch keine gute Strategie, gleich eine riesige Datenplattform zu bauen – am besten noch im stillen Kämmerlein.

Es ist keine gute Idee, gleich mit dem komplexesten Anwendungsfall zu beginnen.

Erfolgversprechender ist es, von Beginn an mit dem Business im Austausch zu sein und mit den Datenexperten zusammenzuarbeiten. Gemeinsam evaluiert man ein oder zwei Lösungen, die die Business-Anforderungen unterstützen. Und die Projekte müssen schnell umsetzbar sein und nicht mehrere Jahre dauern.

Ich könnte mir vorstellen, dass es in den Fachbereichen bezüglich des Datenthemas oft Berührungsängste gibt, weil es zu komplex erscheint und zum Beispiel Plattformen nicht intuitiv sind, zu kompliziert in der Anwendung. Nutzerinnen und Nutzer verlieren dann schnell die Lust, sich mit Datenauswertungen auseinanderzusetzen. Wie ist Ihre Erfahrung?

Ich kann sagen, dass wir zum Beispiel gute Erfahrungen gemacht haben mit einem Format, das wir „AI Maker Place“ nennen. Dabei bringen wir jeweils einen Daten-Laien aus dem Business mit einem Data Scientist zusammen und beide tauschen sich zu einem konkreten Thema aus. Es werden Anforderungen aufgenommen und der Data Scientist fängt beim Treffen schon mit der Programmierung einer konkreten Anwendung an, während der Kollege oder die Kollegin ihm über die Schulter schaut. So wird Data Analytics erlebbar.

Häufiger zum Einsatz kommt auch, dass Laien im Rahmen von Lernprogrammen einfache Daten-Werkzeuge selbst ausprobieren, damit sie eventuelle Berührungsängste verlieren.

Können Sie etwas mit dem Begriff „Data Driven Organization“ anfangen? Was heißt das für Sie?

Ich verstehe darunter eine bestimmte Ausrichtung im Unternehmen, nämlich dass man Entscheidungen und die Auswahl von Applikationen auf der Basis von Datenauswertungen trifft. Diese Daten werden sowohl intern als auch extern generiert.

Und würden Sie sagen, die Allianz ist eine datengetriebene Organisation?

Eine Versicherung hat grundsätzlich sehr viele Daten. Nehmen Sie das Beispiel Schadensbereich: Die Einschätzung von Schäden basiert auch auf der Auswertung zahlreicher Daten. Und die Allianz ist da sicherlich sehr gut aufgestellt. Wir können auf sehr viele Daten zurückgreifen und damit ist zumindest ein wichtiger Schritt gemacht. Aber klar ist auch: Es ist noch manches zu tun.

Neben Data Analytics ist der Einsatz von künstlicher Intelligenz ein großes Thema in der Unternehmenswelt. Können Sie ein Beispiel nennen, wie die Technologie bei Ihnen zum Einsatz kommt?

Die KI ist beispielsweise wichtig für die Mitarbeitenden, die bei uns Risiken bewerten müssen.

Die Technologie hilft, die sehr vielen Informationen, die in den Daten bei der Allianz stecken und die für einen speziellen Fall relevant sind, zu generieren und zusammenzufassen.

Ein anderes gutes Beispiel ist die Gestaltung der Customer Experience. Ich musste einmal eine Versicherung für mein Haus abschließen – da war ich noch nicht bei der Allianz – und das war wahnsinnig aufwendig, weil sehr viele Informationen einzugeben
waren. Bei der Allianz sind wir dabei, mithilfe von KI diesen Prozess zu vereinfachen. Die KI-Technologie sucht beispielsweise auf der Basis einer Antwort von mir die nächste relevante Frage raus und lässt automatisch alle nicht relevanten Fragen weg.

Und ein drittes Beispiel vielleicht noch aus dem Bereich Schaden: Jemand hat einen Autounfall, macht vom Schaden an seinem Wagen ein Foto und sendet das Bild an die Allianz. Die KI gibt daraufhin eine Einschätzung ab, ob es sich lohnt, in die Werkstatt zu fahren – und das Bild kann automatisch an die entsprechende Werkstatt weitergeleitet werden.

Mich würde interessieren, wie Sie arbeiten. Werden in der Regel interdisziplinäre Projektteams gebildet, in denen sowohl Leute aus ihrem Team als auch aus dem Business vertreten sind? Oder agieren Sie vor allem als eine Art Beratung?

Das ist unterschiedlich. Es gibt das klassische Projekt, das beispielsweise mehrere Monate läuft. Dabei ist es generell so, dass ein Datenexperte oder eine Datenexpertin immer mit einem Experten aus dem Fachbereich zusammenarbeitet. Aber ebenso werden auch die Kolleginnen und Kollegen, die hinterher den Betrieb für die Lösung betreuen, von Anfang an integriert. Die Entwicklung dauert vielleicht mehrere Monate, die Lösung soll aber fünf oder zehn Jahre laufen. Deshalb ist das frühzeitige Einbinden der Anwender und des Betriebes so wichtig.

Zusätzlich sind wir bei unseren Ländergesellschaften in den Business Units ebenfalls als Berater unterwegs.

Gibt es die Vision, dass Sie als Data-Analytics- Team irgendwann überflüssig werden, weil die Mitarbeitenden in den Fachbereichen alle Datenexperten sind?

(lacht) Ziel ist natürlich, die Fachbereiche zu befähigen und dafür zu sorgen, dass mehr Datenexpertise dort Einzug hält. Allerdings:

Ich kann gar nicht so viele Datenfachkräfte einstellen, wie es nötig wäre, um alle Anfragen aus dem Business zu bearbeiten.

Da gibt es schon eine große Lücke.

Aber wahr ist auch: Je mehr technologische Werkzeuge es gibt, die das Arbeiten vereinfachen, desto mehr kann durch die Fachbereiche entwickelt werden. Die Technologien entwickeln sich weiter. Bis wir jedoch überflüssig werden, ist es noch ein weiter Weg.

Es gibt den Trend bei den Technologien, dass sie auch für Laien immer einfacher nutzbar sind?

Ja, Technologien werden auch für Nicht-Experten und -Expertinnen einfacher handhabbar. Das ist eine Entwicklung, die wir sehen können, auch was künstliche Intelligenz angeht.

Wir bewegen uns in die Richtung einer Demokratisierung der KI.

Und bezogen auf Data Analytics heißt das Schlagwort „Citizen Data Scientist“. Das sind Fachkräfte aus dem Business, die auch eine gewisse Expertise im Bereich Data Science mitbringen, ohne dabei tiefere mathematische oder statistische Kenntnisse aufzuweisen.

Und für die Nutzung der Tools ist es auch immer weniger notwendig, programmieren zu können, oder?

Ja, absolut. Man spricht von No- und Low-Code- Tools bzw. -Plattformen. Trotzdem würde ich schon sagen, dass man eine Affinität zu Technologie und Statistik braucht. Und ohne jegliche Schulung geht es meist auch nicht.

Und gibt es bei der Allianz groß angelegte Schulungen, um Kompetenzen in Bezug auf Data-Analytics bei Nicht-Experten zu fördern?

Ja, aus meinem Bereich ist ein entsprechendes Lernprogramm entstanden, das mittlerweile von HR betreut wird. Die Bandbreite der Inhalte ist groß – bis hin zur Möglichkeit, ein Zertifikat als Data Scientist zu erwerben. Es gibt auch spezielle Schulungen für das Senior Management. Dadurch wird es Führungskräften erleichtert, stärker eine Treiberrolle bei dem Thema einzunehmen. Insgesamt haben wir bereits ungefähr 8000 Mitarbeitende geschult.

Bevor Sie zur Allianz gewechselt sind, waren Sie unter anderem bei der Lufthansa, also in einer anderen Branche tätig. Spielt Branchen- Know-how keine große Rolle im Bereich Datenanalyse und KI?

Ich war genau genommen bei einer IT-Unternehmensberatung tätig, die zur Lufthansa gehört. Und 50 Prozent unserer Kunden waren externe, also andere Unternehmen. Wir haben beraten und implementiert.

Natürlich hilft es, wenn man die Branche kennt. Nichtsdestotrotz sind viele Themen unabhängig von der Branche: der Aufbau einer Daten- und KI-Plattform zum Beispiel, Daten-Governance oder Datenmanagement.

„Generative KI“ ist mit der Veröffentlichung von ChatGPT sehr populär geworden. Sehen Sie es auch so, dass das Thema hinsichtlich des Einsatzes in der Arbeitswelt einen enormen Schub bekommen hat?

Definitiv. Ich habe vorhin gesagt, dass KI und Data Analytics Change-Themen sind, für die es das Commitment der Unternehmensleitung braucht. Und ich sehe, dass mit ChatGPT das Thema künstliche Intelligenz endgültig in den Vorständen und den Senior Managements angekommen ist. Man kann sagen, ChatGPT hat insbesondere als Marketing-Instrument sehr geholfen.

In die Unternehmen kommt Tempo rein in Sachen KI – und in den Change.

Das heißt, das Thema wird nicht nur irgendwo operativ angegangen, sondern es gibt eine Strategie, es bekommt Priorität und entsprechende Lernprogramme werden unterstützt.

Können Sie mir als Laien noch mal den Unterschied erklären zwischen Data Analytics und KI? Ist Data Analytics immer die Basis für den Einsatz von KI?

Data Analytics bezieht sich meist auf die Anwendung von statistischen Methoden, um bestimmte Erkenntnisse aus einer Menge an Daten zu generieren. Und mit KI, sagen wir: generativer KI, können Muster und Beziehungen in Daten bzw. Inhalten erkannt und auf dieser Basis neue Inhalte erstellt oder Vorhersagen getroffen werden. Der Übergang ist natürlich fließend, aber es sind zwei unterschiedliche Bereiche.

Worauf schauen Sie hinsichtlich des Einsatzes von künstlicher Intelligenz bei der Allianz zurzeit vor allem? Wo erhoffen Sie sich einen großen Mehrwert durch die Technologie?

Wir schauen vor allem auf die Schnittstelle zu unseren Kunden und auf die Customer Experience. Ziel ist beispielsweise, unsere Customer Agents mit KI bestmöglich zu unterstützen. Da gibt es eine Menge Potenzial. Wir haben beispielsweise eine Applikation entwickelt, die für die Agents aus zahlreichen Kundendokumenten schnell die wichtigsten Informationen transparent macht. Der oder die Agent kann dann im Gespräch mit dem Kunden oder der Kundin genau sagen, welche Information sich in welchem Dokument befindet. Und es gibt zum jeweiligen Sachverhalt automatisch eine Zusammenfassung der relevanten Dokumente. Mit der Unterstützung der KI kann der Agent also schneller auf Kundenanfragen reagieren.

Die KI wird die Arbeit der Customer Agents in Zukunft sicherlich noch weiter verändern. Wie adressieren Sie eventuelle Ängste und Unsicherheiten der Mitarbeitenden?

Auch deswegen gibt es die großen Schulungsprogramme, um auch wirklich alle Mitarbeitenden bei der Transformation mitzunehmen. Es geht darum, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Technologie zu entwickeln, zu verstehen, wie die Applikationen eingesetzt werden und wie sie funktionieren. Und natürlich ist rechtzeitiges Training wichtig, gerade wenn ein Prozess sich für den Agent ändert. Auch das hilft, Unsicherheiten zu reduzieren.

Würden Sie sagen, es gibt bei der Allianz eine Offenheit für das Thema KI?

Auf jeden Fall. Wir bieten auch regelmäßige Sessions und Communitys an, um in den Austausch zu kommen und über neue Projekte zu informieren. Und:

Ich nehme eine große Neugierde bei den Mitarbeitenden zu dem Thema KI wahr.

Welche Herausforderung sehen Sie vor allem rund um den Einsatz von KI im Unternehmen?

Die Herausforderung ist vor allem, mit den schnellen Entwicklungen Schritt halten zu können – sowohl allgemein in Europa als auch im Unternehmen. Das ist eine große Challenge.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 08/2023

 

 

Autorin

Susan Wegner
ist Head of Group Data & AI bei der Allianz. Vor ihrem Wechsel zur Allianz war sie als Geschäftsführerin bei Deloitte Digital tätig, wo sie für die Förderung branchenübergreifender Anwendungen für künstliche Intelligenz und Daten verantwortlich war. Davor arbeitete sie als Vice President of Artificial Intelligence and Data Analytics bei Lufthansa Industry Solutions, wo sie die Entwicklung und Implementierung innovativer KI- und Plattformlösungen leitete.
»Susan bei LinkedIn

Die Führungskraft ist entscheidend

Inga Dransfeld-Haase ist Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager:innen sowie Mitglied des Vorstands der BP Europa SE. Im Interview spricht sie über die Personalarbeit in Bezug auf Frontline-Mitarbeitende, wie man Beschäftigte in Raffinerien, Schmierstofffabriken und Tankstellen erreicht und welche Relevanz die Transformation des Energieunternehmens für die Kompetenzentwicklung hat.

Mit Blick auf die Mitarbeitenden wird häufig zwischen „Blue Collar“ und „White Collar“ unterschieden. Macht eine solche Unterscheidung der Zielgruppen im Rahmen der Personalarbeit aus deiner Sicht überhaupt Sinn?

Ich mag diese Unterscheidung nicht so gerne. Mir ist es lieber, nach den Bedürfnissen zu differenzieren und zu fragen: Was ist notwendig? Die Produktionsmitarbeitenden lassen sich nicht alle in einen Topf packen und sind keine harmonische Gruppe, sondern es sind Mitarbeitendengruppen mit zum Teil unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen, wobei sicherlich – wie bei allen anderen Beschäftigten – Respekt, Wertschätzung und Augenhöhe im Miteinander die Basis bilden.

Hinter dem Begriff „Blue Collar“ verbirgt sich für mich eine Vielzahl von unterschiedlichen Gruppen. Ich würde dazu nicht nur die Produktion zählen, sondern auch Service und technische oder handwerkliche Tätigkeiten. Bei BP sprechen wir deshalb auch von Frontline Workern.

Und ja, natürlich gibt es Dinge, die die Arbeit in diesen Bereichen prägt und die es bei klassischen Bürotätigkeiten in der Regel nicht gibt. Ich denke an die Notwendigkeit des Vorortseins, die Schichtdienste und die nicht ständige Erreichbarkeit. In der Regel haben Frontline-Mitarbeitende eine klar geregelte Tätigkeit, der sie acht Stunden nachgehen, und anschließend geht es nach Hause. Die Bedürfnisse sind häufig etwas anders als bei den kaufmännischen Berufen.

So können in Ländern, in denen BP Tankstellen betreibt, Mitarbeitende nicht sagen, dass sie noch mal schnell die E-Mails fertig machen, bevor sie sich um die Kunden kümmern. Und in den großen Raffinerien und Schmierstoffwerken mit sehr vielen Mitarbeitenden arbeiten Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und Bildungsniveaus zusammen und dies muss entsprechend berücksichtigt werden.

Insgesamt bringt diese Zielgruppe für die Personalarbeit eine gewisse Komplexität und auch Limitierungen mit sich – beispielsweise in Bezug auf die Kommunikation oder das Change Management –, wenn es darum geht, wirklich alle vor Ort zu erreichen.

Meiner Erfahrung nach wird den Blue-Collar-Mitarbeitenden und ihren Bedürfnissen in der Personalarbeit der Unternehmen immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wie siehst du das?

Es hat sich eine ganze Menge zum Positiven gewandelt. Im Verband haben wir im Zuge der Corona-Pandemie und ihrer Auswirkungen von der „Verletzlichkeit der Ressource Mensch“ gesprochen und dieser Begriff hat sich festgesetzt. Das heißt, der Einzelne ist wichtig.

In der Krise ist deutlicher geworden, wer wirklich systemrelevant ist, um Betriebe am Laufen zu halten.

Es hat ein generelles Umdenken stattgefunden und der Blue-Collar-Bereich hat eine Aufwertung erfahren.

Es mag immer noch sein, dass in manchen Unternehmen die Bedürfnisse der Frontline-Mitarbeitenden nicht adäquat und ausreichend adressiert werden. Das hat aus meiner Sicht viel damit zu tun, dass diejenigen, die in der Personalarbeit Konzepte erstellen, nicht genügend in der Erlebniswelt der Produktionsmitarbeitenden unterwegs sind.

 

Verbandsprofil

BPM

Der Bundesverband der Personalmanager:innen (BPM) ist mit knapp 5.000 Mitgliedern eine berufsständische Vereinigung für Personaler:innen aus Unternehmen, Verbänden und anderen Organisationen. Der Verband fördert den Wissensaustausch und die Vernetzung unter HR-Professionals, leistet aktiv Imagearbeit für Personalmanager:innen und vertritt ihre Interessen gegenüber Politik und Medien.

 

Wie kann man diesem Dilemma begegnen?

Es ist wichtig, dass die Mitarbeitenden in die Konzeption einbezogen werden, dass sie ihre Perspektiven einbringen können oder gar Konzepte codesignen.

Bei BP wissen wir beispielsweise ganz genau – auf Basis des Austauschs mit den Mitarbeitenden –, wie viel Zeit Beschäftigte in Schichtarbeit wirklich haben und über welche Medien sie erreichbar sind – oder eben nicht. Die Instrumente können je nach Zielgruppe sehr unterschiedlich sein.

Du hast gesagt, dass sich einiges gewandelt hat in Bezug auf Blue Collar. Gilt das auch für das Thema Führung und die Führungskräfteentwicklung in dem Bereich? Gerade in der Produktion war es doch lange so, dass vor allem die fachlich Besten in Führungspositionen gekommen sind. Auf soziale Fähigkeiten wurde in den meisten Organisationen lange nicht geschaut.

Die Einschätzung, dass der Produktionsbereich in Sachen Führung nachrangig behandelt wurde, kann ich nicht teilen. Bei Nordzucker, wo ich vor BP tätig war, gab es schon sehr früh selbstorganisierte Teams in der Produktion und einen modernen Führungsansatz. Das Zuckergeschäft ist ein Kampagnengeschäft, das heißt, es wird an circa 120 Tagen rund um die Uhr 24 Stunden lang produziert und im Anschluss folgt die Instandhaltungsphase.

Die Frage, wie die Arbeit in der Instandhaltung organisiert wird, ist also eine ganz entscheidende, um im nächsten Jahr wieder produzieren zu können. Trotzdem – oder genau deswegen – hat man die Verantwortung dafür den Teams gegeben. Damit verbunden waren beispielsweise Themen wie: Wann ist wer in Urlaub? Wann muss die Vorarbeit geleistet sein? Wann wird die Turbine bestellt und geliefert? Welche Tage wird kollektiv freigenommen?

Ein zweites Beispiel, das ich geben will, ist die Werte- und Kulturentwicklung in einem Unternehmen. Es lohnt sich sehr, auch vom Blue-Collar-Bereich zu lernen, ihn einzubeziehen und sich die Art der Kommunikation dort genau anzuschauen. Denn diese ist oft sehr geradeaus, direkt auf den Punkt, nah am Menschen und nicht so „verkopft“.

Unterscheidet ihr bei BP bezüglich der Führungskräfteentwicklung zwischen den Zielgruppen Blue und White Collar?

Wir haben zunächst einmal eine Lernplattform für alle, eine Art „Netflix des Lernens“, mit unterschiedlichen Karrierepfaden, die transparent machen, wie man sich weiterentwickeln kann. Im Rahmen unserer Transformation vom Öl- und Gasunternehmen hin zum integrierten Energieunternehmen liegt ein wesentlicher Schwerpunkt auf dem Lernen. Deshalb spielt diese Plattform in der Transformation eine wichtige Rolle für uns. Und jeder BP-Mitarbeitende bekommt ein Leadership-Training mit dem Namen „Leading myself“ als Basis angeboten. Die Philosophie dahinter ist:

Wenn ich mich selbst nicht gut führen kann, kann ich höchstwahrscheinlich andere auch nicht gut führen.

Daneben gibt es Lerninhalte zu „Leading others“ sowie „Leading organizations“, um das Wesentliche zu nennen.

Zusätzlich haben wir Leadership-Programme mit verschiedenen Modulen. Dazu gehören unter anderem Angebote für Menschen mit erster Führungserfahrung. Dabei unterscheiden wir bewusst nicht zwischen Blue und White Collar.

Wie viele Mitarbeitende hat BP Europa insgesamt und wie hoch ist in etwa der Anteil der Blue Collar?

In den sieben Ländern für die Marken BP, Aral und Castrol sind es circa 9.000 Mitarbeitende und davon ist etwa die Hälfte dem Bereich Frontline zuzurechnen.

Wenn es um die Kommunikation bei Veränderungsvorhaben geht, ist eine bekannte Herausforderung hinsichtlich der Zielgruppe der Produktionsmitarbeitenden die richtige Wahl der Kommunikationsinstrumente und -formate. Wie erreicht man sie am besten? Worauf ist zu achten deiner Erfahrung nach?

Das wesentliche Instrument ist meiner Ansicht nach die Führungskraft. Sie hat eine wichtige Rolle als Kommunikator und Kulturgestalter. Sie muss auch Informationen filtern, bewerten und abfedern, damit nicht sämtlicher Druck nach unten durchschlägt. Sie gibt Orientierung, erklärt den Weg nach vorn und verdeutlicht im besten Falle jedem Einzelnen, welchen Beitrag er leisten kann, um die Unternehmung besser zu machen.

In der Kommunikation ist also vor allem die klassische Kaskade wichtig?

Ja, durchaus. Gerade mit Blick auf die Produktionsbereiche sind jedoch ebenso die Betriebs- und Belegschaftsversammlungen, die Town Halls, von großer Bedeutung. Dort kommen unter anderem Betriebsrat und Führungskräfte mit den Mitarbeitenden zusammen, um beispielsweise die Strategie und die aktuelle Ergebnislage zu erläutern. Auch hier gibt es die Gelegenheit, Botschaften zu setzen, Mitarbeitererlebnisse positiv zu gestalten und Vertrauen zu schaffen – als Ergänzung zur individuellen Führungsbeziehung und den konzernweiten virtuellen Town Halls für alle Mitarbeitenden.

Herausfordernd kann die Kommunikation werden, wenn man sich bestimmte Kontexte anschaut. Nehmen wir als Beispiel eine einzelne Tankstelle und einen Webcast des CEO aus London zur neuen Strategie. Mitarbeitende in diesem Arbeitsumfeld sind dann recht weit von der Konzernzentrale entfernt und haben wenig bis gar nichts mit anderen Geschäftsfeldern in der Welt zu tun. Damit wird die Kommunikation im Change bzw. in Transformationen entsprechend anspruchsvoller.

Im Vergleich dazu ist die Kommunikation in einem Produktionswerk leichter. Dort kann die Geschäftsführung eine Belegschaftsversammlung durchführen und diese aufzeichnen lassen. Und die Mitarbeitenden haben die Möglichkeit, mit ihrer Führungskraft und ihren Kolleginnen und Kollegen über das Erlebte zu sprechen. Auch das ist wichtig.

Welche Formate und Instrumente siehst du noch als wichtig in der Kommunikation, wenn die Zielgruppe Produktionsmitarbeitende sind?

Neben der Führungsbeziehung als wichtigen Kommunikationsweg sollte man sich weitere Kanäle überlegen, die idealerweise jederzeit verfügbar sind. Das können Broschüren sein, Screens, E-Mails und/ oder Intranet-Meldungen.

Das Smartphone ist sicherlich gerade im Blue-Collar-Bereich ein interessantes Kommunikationsmedium.

Wenn ein Betrieb seine Mitarbeitenden allerdings aus Kostengründen nicht mit Geschäftshandys ausstatten kann, ist vielleicht „Bring your own Device“ eine Möglichkeit. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei, dass die Auseinandersetzung der Mitarbeitenden mit den Kommunikationsinhalten der Firma auch als Arbeitszeit gewertet wird.

BP befindet sich mitten in der Transformation zum integrierten Energieunternehmen. Spiegelt sich das Transformationsvorhaben schon in der Kompetenzentwicklung wider – beispielsweise im Blue-Collar-Bereich?

Ja, seit einiger Zeit ist unser Ansatz Skills-basiert. Wir schauen nicht mehr, was in der einzelnen Funktion gebraucht wird, sondern clustern bezogen auf Kompetenzen. Es sind vier Schwerpunktbereiche, die wir mit unseren Clustern im Fokus haben: Commercial, Digital, Nachhaltigkeit und Agilität.

Ein Beispiel: Kommerzialität ist für uns sehr wichtig. Ob jemand an unserer Tankstelle Benzin tankt oder sein E-Auto lädt, ist für uns letztlich kein großer Unterschied. Wir bieten die notwendigen Lösungen an. Für die Kundenzufriedenheit spielt jedoch auch der Convenience-Bereich eine ausschlaggebende Rolle. Ein Kunde lädt in 20 Minuten sein Auto und währenddessen trinkt er bei uns einen Kaffee und erledigt seinen Tageseinkauf. Du siehst: Alle Mitarbeitenden im Tankstellengeschäft brauchen Commercial-Skills, um diese Interdependenzen zu erkennen und entsprechende Angebote zu entwickeln.

BP hat in Gelsenkirchen eine sehr große Raffinerie. Was ist für die Mitarbeitenden dort hinsichtlich der Kompetenzentwicklung in den genannten Bereichen überhaupt relevant?

All das Genannte. Unsere Produktionsbetriebe werden digitaler. Und auch im Bereich Commercial sollte man Bescheid wissen, beispielsweise wie sich Einkaufspreise entwickeln und wie der Verkaufspreis zustande kommt – und von welchen Faktoren dieser abhängig ist.

Und Nachhaltigkeit ist die Grundlage unserer Strategie. Mit Blick auf die Dekarbonisierung sollte zum Beispiel klar sein, welchen Beitrag wir je Geschäftsbereich leisten.

Und schließlich: Die Agilität spielt auch in der Raffinerie eine große Rolle, beispielsweise wenn eine Großrevision der Raffinerie ansteht und die ganze Mannschaft gefordert ist.

Müssen die Mitarbeitenden in Gelsenkirchen die Transformationsstory von BP kennen?

Das ist wichtig, absolut. Leadership- und kulturelle Werte, die Identität von BP, was die Strategie ist und wo wir hinwollen – das alles kennt wirklich jeder Mitarbeitende. Wir haben bei unserer jährlichen Mitarbeiterbefragung erfreulicherweise zu alldem hohe Zustimmungsraten.

Für den Frontline-Bereich wurden die Fragen angepasst, einfacher und kürzer gestaltet, damit die Mitarbeitenden wirklich nur das für ihren Bereich Relevante beantworten müssen.

Die Ergebnisse der Befragung werden besprochen und daraus abgeleitete Themen in Workshops bearbeitet. Das Fragenset ist stabil, um die Vergleichbarkeit sicherzustellen.

Und neben der jährlichen Befragung gibt es noch „Pulse Live“, eine monatliche, kürzere Umfrage, bei der wir einzelne, ausgewählte Fragen stellen können, um zu sehen, was die Belegschaft konkret bewegt, und um Veränderungen im Jahresverlauf zu erkennen.

Was wäre bezogen auf die Gruppe der Blue-Collar-Mitarbeitenden ein Ratschlag, den du allgemein als Präsidentin des BPMs geben würdest?

Die Sichtbarkeit des Einzelnen liegt mir am Herzen.

Und Personaler und Personalerinnen sollten – genauso wie Führungskräfte – nahbar bleiben.

Auch mal vor Ort sein, mal eine Runde mitarbeiten und Gespräche führen, in jedem Fall zuhören.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 07/2023

 

Autorin

Inga Dransfeld-Haase
ist Vorständin für Arbeit und Soziales bei dem Energieunternehmen BP Europa SE. Sie ist zudem seit 2019 Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager:innen (BPM). Vor ihrem Wechsel zu BP Europa SE im Jahr 2020 war Inga Dransfeld-Haase als Head of Corporate Functions für die Nordzucker AG tätig.
»Inga bei LinkedIn

Im Jahr 2015 startete die Otto Group eine umfassende kulturelle Transformation. Seitdem wird die Unternehmenskultur auch als wichtiger Hebel für den Geschäftserfolg betrachtet. Bianca Lammers, die das Team „Kulturwandel 4.0“ leitet, spricht im
Interview über die Anfänge des Transformationsprozesses und die Herausforderung, zu irritieren, ohne die Anschlussfähigkeit zu verlieren.

Die Otto Group wird stark mit dem Thema „Unternehmenskultur“ und „Kulturwandel“ in Verbindung gebracht. Siehst du das auch so und woran liegt das deiner Ansicht nach?
Wir sind konzernweit 2015 mit unserem bisher größten kulturellen Transformationsprozess gestartet – und er hat richtig etwas ausgelöst in der Organisation.

Dass sich ernsthaft etwas bei uns im Unternehmen veränderte, spürte man, glaube ich, etwa anderthalb Jahre später. So hat beispielsweise die Einladung unseres Vorstands, von allen geduzt zu werden, in der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit gesorgt. Das war damals für ein Traditionsunternehmen doch ungewöhnlich. Für uns war das eigentlich überhaupt kein Meilenstein, sondern eher das Ergebnis eines guten Prozesses. Heute gehört das „Du“ zu unserer Kultur.

Wir machen Kulturwandel nicht, damit wir uns wohler fühlen. Sondern um unser Business nach vorne zu bringen. Nur um einige Beispiele zu nennen: Wir haben AboutYou erfolgreich an den Markt gebracht; wir sind in das Retail-Media-Geschäft eingestiegen und seit Kurzem sind wir im Digital-Health-Markt unterwegs. Kulturwandel ermöglicht demnach Räume für Ideen, Innovationen und Transformation unserer Geschäftsmodelle und ist damit Teil unserer Strategie und Haltung.

Du warst schon 2015 beim Start der Transformation dabei?
Ja, ich habe 2015 im Strategiebereich gearbeitet und war im Initiierungsteam mit zwei anderen Kolleg:innen.

Was war damals der Auslöser, sich überhaupt mit der Kultur der Otto Group zu beschäftigen? Welche Probleme wolltet ihr lösen?
Das Problem war unsere wirtschaftliche Performance, die bei der rasenden Veränderungsgeschwindigkeit der Digitalisierung nicht mehr mithalten konnte. Die Erkenntnis, dass langjährig erprobte Mechanismen im Unternehmen nicht mehr reichten, führte dazu, dass wir nicht unsere Geschäftsfelder, sondern unsere Art der Zusammenarbeit, unsere Unternehmenskultur infrage gestellt haben. Aus dem Strategiebereich heraus haben wir dann Mitarbeitende und Führungskräfte befragt, wo ihrer Ansicht nach die Schmerzpunkte liegen.

Und welche Antworten habt ihr bekommen?
Die Antworten waren alle sehr ähnlich:

Es gab „Fürstentümer“ und Silobildung, kein Empowerment – die ganzen Klassiker, die man wahrscheinlich in allen Konzernen findet, kamen direkt zum Vorschein.

Was ist dann mit den Interviewergebnissen passiert?
Die Ergebnisse waren nicht überraschend. Jeder wusste es eigentlich auch, sprach es aber nicht an.

Wir machten allerdings die Ergebnisse sichtbar, sodass man darüber sprechen konnte. Das war der erste wichtige Schritt.

Bei einer großen Strategietagung mit dem Vorstand hat unser Bereich im Rahmen seiner Präsentation nicht nur gezeigt, wie wir als Unternehmen im Markt stehen, sondern eben auch das Kernergebnis der Interviews erläutert: dass wir uns selbst im Weg stehen und wir uns verändern müssen. Unser Aufsichtsratsvorsitzender Michael Otto stimmte sofort zu. Man kann sagen, dass direkt aus dieser Sitzung der Auftrag an den Strategiebereich kam, sich um die Herausforderungen zu kümmern.

Was waren eure ersten Schritte?
Wir haben am Anfang ganz klassisch gehandelt und erst einmal ein Projekt aufgesetzt sowie nach Unternehmensberatungen geschaut, die Transformation und Organisationsentwicklung können. Doch relativ schnell war uns klar, dass wir mit den üblichen Ansätzen, mit denen wir immer losgehen, die Kultur nicht verändern werden.

Während wir den Prozess gestalteten, haben wir uns häufig selbst hinterfragt. Denn wir waren ja Teil des Systems. Wir entschieden uns deshalb zu Beginn, eine systemische Beratung als externe Unterstützung dazuzuholen. Das war für uns als Strategiebereich zu diesem Zeitpunkt neu.

War euer Vorhaben zu diesem Zeitpunkt im Unternehmen schon bekannt?
Nein, das Thema wurde an dem Punkt nur im Strategiebereich behandelt. Losgelegt im Team, mit dem Vorstand und dem systemischen Coach haben wir im Februar 2015, der offizielle Kick-off für das gesamte Unternehmen war im Dezember 2015.

Worauf habt ihr am Anfang besonders Wert gelegt?
Anfangs waren wir aus dem Strategiebereich jeden Monat bei der Vorstandssitzung dabei und wir haben mit den sechs Vorstandsmitgliedern bilaterale Gespräche geführt.

Denn irgendwann würden wir auf Themen stoßen, die sich nur bearbeiten lassen, wenn der Vorstand eine zentrale Weichenstellung ermöglicht. Wenn die Vorstandsmitglieder nicht an Bord sind, wenn sie Veränderungen nicht selbst mittragen und authentisch vorleben, wird es schwierig.

Worauf wir auch viel Zeit verwendeten, war die Rollenklärung: Unsere Rolle sollte sein, den Prozess der Veränderung zu begleiten, der Vorstand war in der Verantwortung. Das machte ein Umdenken nötig. Wir haben auch geschaut: Welches Vorstandsmitglied kann für ein Thema, das aus der Organisation zurückgemeldet wurde, authentisch stehen und es vorantreiben? Die Gesellschafter Michael und Benjamin Otto haben wir eng einbezogen. Denn uns war es wichtig, dass Aufsichtsrat und Vorstände hinter dem Prozess stehen und thematische Verantwortung übernehmen. Um dieses Commitment zu schaffen, haben wir uns ein bisschen Zeit gelassen.

Hattet ihr 2015 schon ein Zielbild oder habt ihr euch erst einmal auf den Weg gemacht und für Austauschmöglichkeiten gesorgt?
Wir hätten natürlich als Strategie-Mitarbeitende liebend gerne Zielbilder gemalt. Das wäre das klassische Vorgehen gewesen. Diesem Reflex haben wir widerstanden und stattdessen die Problemfelder aufgemacht. Wir sind auch ohne Zielbild in die Vorstandssitzungen. Wir wussten nur, wir wollen an die Probleme ran und wir wollen unsere bisherigen Arbeitsweisen verändern, um die Zukunft der Otto Group weiterhin zu gestalten. Das war die zentrale Botschaft im Kick-off: dass gemeinsam an den Herausforderungen gearbeitet werden soll. Wie das gehen sollte, wussten wir aber damals selbst nicht.

Gestartet sind wir mit Workshops zu identifizierten Themen wie „Empowerment“, Customer & Data“ oder „Speed“. Dazu haben die Vorstände hierarchieübergreifend Freiwillige gesucht, die bereit waren, mitzugestalten. Auszubildende und Vorstände in einem Workshop, die gemeinsam an kniffeligen Themen arbeiten, das war 2015 absolut neu und bahnbrechend.

Am Anfang unseres Kulturwandels haben wir uns an der Theory U von Otto Scharmer orientiert. Wir mussten also zunächst „durch den Schmerz durch“. Wir haben die Vorstände mit der Organisation zusammengebracht und man hat sich gegenseitig zugehört. Es ging zu Beginn darum, wirklich das Problem zu verstehen und nicht – wie sonst üblich – sehr schnell auf eine Lösung zu springen.

Allerdings war das nicht einfach. 2015 konnte man in der Otto Group sicher noch nicht einen hierarchieübergreifenden
Workshop mit Vorständen machen und erwarten, dass da das „sprudelnde Leben“ passiert.

Ist das ein „Geheimnis“, um Kulturwandel voranzubringen? Einen Raum zu schaffen, damit Menschen hierarchieübergreifend zusammenkommen, um auf Augenhöhe vertrauensvoll über Probleme sprechen zu können?
Es ist ein Faktor. Wenn aber danach nichts passiert, dann kommt man in so eine reine „Auskotz-Schleife“. Es muss dann auch in Richtung Zukunft gehen.

War am Anfang allen klar, dass Kultur ein wichtiger Stellhebel für die Transformation ist? Oder musstet ihr bei den Führungskräften erst enorme Überzeugungsarbeit leisten?
Ja, sicherlich. Nicht alle haben „Hurra“ geschrien. In der ganzen Belegschaft – auch im Vorstand – gab es Gruppen, die sehr zurückhaltend waren, Kultur als strategischen Erfolgsfaktor zu sehen. Viele irritierte, dass gerade der Strategiebereich das Kulturthema anbrachte. Manche vermuteten sogar das nächste Restrukturierungsprojekt hinter der Initiative. Und was ebenfalls irritierte, war der hierarchieübergreifende Ansatz. Das war ein Novum und hat bei einigen Führungskräften für Unverständnis
gesorgt.

Lass uns einen Zeitsprung in das Heute machen. Es gibt immer noch eine Initiative bei der Otto Group mit dem Namen „Kulturwandel 4.0“. Habt ihr die Philosophie, dass man immer an der Kultur arbeiten muss und Kulturwandel kontinuierlich stattfindet?
Ja, das kann man so sagen.

Und dass der Kulturwandel ein Prozess ohne definiertes Ende ist.

Warum gibt es bei der Otto Group noch das Team „Kulturwandel 4.0“? Was ist der Auftrag?
Wie gesagt, Kulturwandel ist ein permanenter Prozess. Sich von bekannten Mustern zu verabschieden, fällt den Menschen per se schwer. Zu verstehen und zu reflektieren, welches Verhalten gerade sinnvoll ist und zum Erfolg des Unternehmens beiträgt, ist auch nicht immer einfach. Es gibt natürlicherweise Rückfälle in alte Verhaltensweisen. Unsere Aufgabe als Kultur-Team ist es, zu schauen, welche Verhaltensweisen und welche Muster uns nicht mehr zum Ziel bringen. Wir fragen: Was sollten wir reflektieren? Was sollten wir ins Bewusstsein holen? Wir schauen auf Verhalten.

Besteht dabei nicht die Gefahr, als Kultur-Sheriff wahrgenommen zu werden?
Es ist auf jeden Fall eine schwierige Rolle. Natürlich besteht das Risiko, als „Bad Guy“ oder „Bad Lady“ gesehen zu werden, wenn man unangenehme Sachen thematisiert. Man wird auch schnell zur Projektionsfläche für jedes individuelle Problem. Manchmal macht es deshalb Sinn, einen externen Blick dazuzunehmen, wenn es darum geht, uns allen einen Spiegel vorzuhalten. Die Umsetzung der Veränderung muss aber immer mit einem Teil des Systems passieren.

Sich ein Kernteam „Kultur“ zu leisten, ist deshalb wichtig, weil die Beharrungskräfte grundsätzlich stärker als die Veränderungskräfte sind. Unser Team hat die Aufgabe, zu beobachten, Verhaltensmuster zu spiegeln und Veränderungen anzustoßen, wenn es nötig ist. Klar ist jedoch auch: Es ist ein schmaler Grat.

Mittlerweile sind wir nicht allein. Neben den sogenannten lokalen Kulturwandelteams, die in den Konzerngesellschaften ganz individuell die Kulturwandelprozesse gestalten, haben wir auch Fachbereiche ausgebaut bzw. gegründet. Beispielsweise gibt es in einigen Konzerngesellschaften Agile Center, die Veränderungsprozesse begleiten. Außerdem haben wir viele neue Kolleg:innen, die professionell Organisationsentwicklung in den Gesellschaften und Teams vorantreiben.

Wir als Nukleus-Team schauen, bei welchem Thema der Konzern in Summe einen Anschwung braucht. Wo steht uns die Macht der Gewohnheit im Weg? Was müssen wir trainieren?

Was beschäftigt euch konkret in diesem Jahr?
Wir haben die Organisation gefragt. In diesem herausfordernden Jahr beschäftigt uns die Frage, wie wir fokussiertes Verhalten trainieren können. Fokussierung hat sowohl eine individuelle als auch eine organisationale Dimension. Individuell geht es zum Beispiel um die Fähigkeit, „Nein“ zu sagen. Organisational arbeiten wir aktuell an unserer Reporting-Kultur.

Gerade die organisationale Perspektive in Form von Strukturen und Prozessen dürfte doch bezüglich Fokussierung besonders wichtig sein, oder?
Ja. Als Erstes wird als entscheidender Hebel oft ein transparentes Zielsystem genannt. Damit verbunden ist ebenso die Frage: Was ist der Beitrag eines jeden Einzelnen zum großen Ganzen? Das hat eine starke strukturelle und prozessuale Komponente. Doch wenn man diesbezüglich eine Weiche anders stellt, muss auch der Umgang mit dem Neuen trainiert werden. Zum Beispiel kann ein Team nicht einfach eine OKR-Logik einführen, ohne das dazugehörige Verhalten zu üben. Die alten Muster passen nicht zu einem agilen Framework. Wie wendet man es also an, damit es wirklich die Performance steigert? Und was muss auf der Verhaltensebene umgestellt werden?

Zusammengefasst gesagt: Im ersten Schritt werden Dinge sichtbar, die uns auf der Prozessseite fehlen. Oder ein Prozess wird nicht richtig gelebt. Im zweiten Schritt ist es unsere Aufgabe, eine Reflexion anzustoßen und eine gute Dialoggrundlage zu schaffen, damit das jeweilige Thema offen und ehrlich diskutiert werden kann, beispielsweise zu der Frage: Was müssen wir noch lernen?

Und wo steht ihr bei dem Thema „Fokus“? Seid ihr noch in der Analysephase?
Wir gehen die Analyse und „das Machen“ parallel an.

Wir stehen noch ganz am Anfang und merken an verschiedenen Stellen, warum es so wichtig ist, „Fokussieren“ zu trainieren. Es ist eine harte Nuss.

Was ich bei dem Thema Kultur beobachte, ist, dass in den Unternehmen zwar keine langfristigen Zielbilder ausgegeben werden, es aber doch den Anspruch gibt, eine Kultur zu schaffen, die von Lern- und Veränderungsbereitschaft geprägt ist, die resilient und agil ist. So soll die Organisation in der Lage sein, sich an ein veränderndes Umfeld schnell anzupassen. Ist die flexible Organisation auch für euch ein Ziel?
Veränderungs- und zukunftsfähig zu sein, ist unser Kernziel. Und um das zu erreichen, setzen wir immer wieder auf unterschiedliche Themen, wie zum Beispiel Resilienz oder eben agile Zielsysteme.

Was wir als Kultur-Team machen, ist Anschubhilfe zur Reflexion: Welches Verhalten hilft gerade, um als Organisation veränderungsfähig zu bleiben, und welches nicht?

Wo steht die Otto Group mit Blick auf eine veränderungsbereite Kultur insgesamt?
Das kommt darauf an, wen du in der Organisation fragst. Die Perspektiven sind sehr unterschiedlich. Von „Toll, was uns der Kulturwandel bisher gebracht hat“ bis „Ich wünschte, der Kulturwandel würde endlich mal anfangen“. In der Summe sind wir aber sicherlich auf einem anderen Niveau als noch vor einigen Jahren. Das merkt man auch an der Anspruchshaltung – beispielsweise, wenn es um die partizipative Entwicklung von Themen geht.

Was, denkst du, ist die größte Herausforderung in deiner Rolle?
Diesen Spagat hinzubekommen: einerseits die Leute zu irritieren und sie mit Interventionen aus ihren Gewohnheiten zu holen und gleichzeitig anschlussfähig zu bleiben. Die Irritation muss von der Organisation annehmbar und schließlich umsetzbar sein.

Das kann beispielsweise bedeuten, dass man in einem Workshop dafür sorgt, dass ein Teil Altbekanntes ist und einen hohen Wiedererkennungswert hat und ein anderer Teil komplett neu ist. Also, neben einer PowerPoint-Unterlage gibt es dann zum Beispiel für das Top-Management eine dynamische Agenda, die am Tag vorher per digitaler Abstimmung entsteht.

Du bist in der Division „Kulturwandel 4.0“. Seid ihr auch Kulturveränderer?
Kultur ist nicht veränderbar. Sie ist einfach da. Wir als „Kulturwandel 4.0“-Team schauen auf die Verhaltensmuster und Werte. Wir können auch das Verhalten nicht direkt verändern, aber wir wissen, welche Hebel wir in Gang setzen müssen, damit Verhaltensänderung möglich wird. Und in der Analysephase sprechen wir vor allem mit denjenigen, die an den Hebeln für Veränderungen sitzen.

Kannst du etwas mit dem Begriff der „agilen Kultur“ anfangen? Gibt es die überhaupt?
Ich kann mit den Grundsätzen der Agilität viel anfangen, weil sie ähnlich zu den Prinzipien der systemischen Beratung sind und wir uns an den Agilitätsprinzipien orientieren. Und ich denke, unsere Agile Coaches beispielsweise leisten einen enormen Beitrag, um unsere Zusammenarbeit besser zu machen. „Agile Kultur“ klingt ein bisschen nach Buzzword. Damit kann ich nicht so viel anfangen.

„Kulturwandel 4.0“ klingt aber auch ein bisschen nach Buzzword.
Das kommt aus der Zeit, als „Industrie 4.0“ so hoch im Kurs stand und man damit Begriffe verbunden hat wie „Vernetzung“, „Empowerment“, „Transparenz“, „Digitalisierung“.

Wir haben uns als Kultur-Team damals ein wenig gesträubt, so einen „Branding-Begriff“ zu nutzen. Statt viel Zeit darauf zu verwenden, ein Zielbild oder Slogan auf dem Papier festzuschreiben, bin ich der Meinung, schnell ins Machen zu kommen und Dinge auszuprobieren, bringen einen schneller zum Ziel als die Diskussion darüber.

Was würdest du sagen, wo der Kulturwandel in der Otto Group am besten erlebbar wird?
Ich würde sagen, am ehesten wird er an der Diskussionskultur sichtbar. Beispielsweise herrschte vor zehn Jahren in der „Teppichetage“, in der Etage des Vorstands, viel Stille und kein Hinterfragen.

Auch in unseren Town-Hall-Meetings kommen wir heute viel schneller zu den relevanten und strittigen Themen.

Oder ich denke ebenso an das Thema Transparenz. Früher musste man sich darum bemühen, an Informationen zu kommen. Heute gilt Transparenz als Standard. Das heißt, wenn eine Information im Unternehmen nicht transparent gemacht werden soll, muss es dafür eine Begründung geben. Früher war die Nicht-Transparenz das Normale.

Und unsere konzernweite Kollaboration hat ein neues Level erreicht. Dies sollten wir nicht als gegeben ansehen. Die Welt dreht sich weiter und wir müssen uns kontinuierlich mit unserer Art der Zusammenarbeit auseinandersetzen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, Kulturwandel ist nie vorbei.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 05/2023

 

Autorin

Bianca Lammers
leitet das „Kulturwandel 4.0“-Team der Otto Group. Sie ist Master of Science in Betriebswirtschaftslehre und ausgebildete systemische Organisationsberaterin. 2013 ist Bianca Lammers als Beraterin im Strategiebereich in die Otto Group eingetreten. Seit 2018 ist sie als Projektleiterin im „Kulturwandel 4.0“-Team tätig. Sie verantwortet den Bereich seit 2021.
»Bianca bei LinkedIn

Die meisten Unternehmen streben nach kontinuierlicher Veränderung. Sie suchen nach innovativen Organisationsformen, die höchste Flexibilität ermöglichen – ein Schlüsselfaktor für langfristigen Erfolg. Dabei geht es nicht nur um schnelle Reaktion, sondern auch um proaktives Antizipieren, Gestalten und Neudenken sämtlicher Unternehmensdimensionen. Maren Hauptmann und Tanja Waldner über „Die Super-Responsive-Organisation“.

Seit es ChatGPT gibt, ist die Nutzung von Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt ganz konkret und für jeden möglich geworden. Peter Buxmann, Professor für Wirtschaftsinformatik an der TU Darmstadt, ist sich sicher, dass die Veränderungen enorm sein werden. Dennoch blickt er positiv in die Zukunft. Unser Arbeitsleben werde sich durch die Zusammenarbeit mit KI erleichtern, sagt er.

Herr Professor Buxmann, alle Welt redet über ChatGPT. Was für eine Art der Künstlichen Intelligenz ist das?
Es geht dabei um Sprachmodelle. GPT-3 war bereits ein sehr leistungsfähiges Sprachmodell. Das konnte aber nur von Spezialisten über eine Programmschnittstelle bedient werden. Im Herbst 2022 hat sich das dann mit ChatGPT geändert. Das Besondere ist zum einen, dass es eine, wie ich finde, sehr gute Dialogfähigkeit mitbrachte. Und zum anderen, dass jeder es mithilfe eines Prompters à la
Google nutzen konnte. Das ist eine Form der Demokratisierung der KI, wenn man so will.

Und ist GPT Ihrer Meinung nach so gut, wie viele sagen?
Ich habe GPT mit meinem Team ausprobiert und ich halte die Ergebnisse für sensationell gut. Das gilt vor allem für die Weiterentwicklung GPT-4. Für mich sind diese Entwicklungen so revolutionär wie die Erfindung des iPhones.

Auch GPT-4 ist ein Sprachmodell. Was macht ein Sprachmodell im Vergleich zu anderen KI -Arten aus?
Ein Sprachmodell basiert auf mehreren Algorithmen des maschinellen Lernens, die auf die Verarbeitung von Texten spezialisiert sind. Die KI wurde mit Milliarden von Texten trainiert. Auf dieser Grundlage kann die KI zum Beispiel Artikel generieren, Dialoge führen, Software schreiben oder Websites erstellen. Und sie lernt unter anderem dadurch, dass der Mensch ihren Output bewertet, sodass die Ergebnisse mit der Zeit immer besser werden. Zum Teil trainieren die Algorithmen sich auch gegenseitig.

Sie haben gesagt, Sie haben GPT mit Ihrem Team ausprobiert. Was hat Sie an den Ergebnissen so begeistert?
Ich fand einfach die Qualität der Texte und die Dialogfähigkeit herausragend. Wir haben das Modell fachliche Blog-Artikel schreiben, Marketing-Kampagnen erstellen und sogar Software entwickeln lassen. GPT-4 kann beispielsweise auch Gedichte schreiben und Mission Statements für Firmen verfassen – und das vor allem sehr, sehr schnell.

Ich habe ChatGPT auch ausprobiert und bin erstaunt über die Variabilität des Modells. Es kann seine Texte auch an verschiedene Zielgruppen anpassen oder sie aus unterschiedlichen Perspektiven verfassen: GPT kann als Experte schreiben oder auch mit den Worten eines Achtklässlers.
Ja, absolut. Sie können GPT genaue Anforderungen mitgeben, die es dann berücksichtigt. Es kann zum Beispiel ein Grußwort humorvoll oder sehr staatstragend schreiben. Die Vielfalt ist wirklich erstaunlich und zeigt das Potenzial.

Und Sie sagen, die Qualität der Texte ist sehr gut?
Ich finde schon. Wenn wir uns zum Beispiel einfache Marketingtexte anschauen, dann ist ChatGPT oder GPT-4 vermutlich schon nah dran an einem durchschnittlichen Texter. Und die Grenze wird sich mit der Zeit weiter nach oben verschieben. Der Anteil der Texterinnen und Texter, die qualitativ besser sind, wird immer kleiner. Und kürzlich hat GPT-4 auch bei einem Aufnahmetest für ein Jura-Studium in den USA angeblich unter den besten zehn Prozent der Teilnehmenden abgeschnitten.

Die spannende Frage ist nun, welche Veränderungen auf die Arbeitswelt zukommen. Interessanterweise sind es gerade die Wissensarbeiter und -arbeiterinnen, die von Sprachmodellen wie GPT besonders betroffen sind, also Bürojobs in Versicherungen, Banken, Rechtskanzleien, Werbeagenturen und in Verlagen beispielsweise. Welche Auswirkungen sehen Sie vor allem?
Ich glaube, dass alle Berufe, bei denen es darum geht, Texte oder Codes zu schreiben, sehr stark von Veränderungen betroffen sein werden. Ich kann mir unterschiedliche Effekte vorstellen. Es kann sein, dass einige Jobs wegfallen. Und es gibt auch bereits Studien, die zeigen, dass es bei Menschen Ängste vor Jobverlust aufgrund von KI gibt. Es werden aber genauso neue Jobs geschaffen, wie zum Beispiel den des Prompt Engineers.

Eine Studie des MIT unter anderem unter Marketingexperten, Personalern und Datenanalysten hat gezeigt, dass diese Personen ihre
berufsspezifischen Aufgaben mithilfe von GPT 35 Prozent schneller erledigen konnten. Auch die Qualität der Arbeit war besser und die Menschen waren im Durchschnitt zufriedener.

Diese Studie kenne ich ebenfalls. Interessanterweise wurde dafür „nur“ ChatGPT verwendet.
Ganz genau.

Was ist der Unterschied zwischen ChatGPT und GPT-3 bzw. GPT-4?
ChatGPT baut auf GPT-3 auf und wurde um einige Features erweitert, insbesondere hinsichtlich der Dialogfähigkeit. GPT-4 ist der Nachfolger von ChatGPT.

Und warum ist GPT-4 so viel besser als seine Vorgängermodelle?
GPT-4 unterscheidet sich insbesondere in drei wesentlichen Punkten von ChatGPT: Erstens hinsichtlich der Modellgröße, zweitens in Bezug auf Quantität und Qualität der Trainingsdaten und drittens durch die algorithmischen Verbesserungen. Laut Aussagen von OpenAI soll GPT-4 auch weniger Falschaussagen liefern und unerlaubte Themen besser erkennen und vermeiden. Außerdem ist die Verarbeitung von Bildern möglich. Sie geben der Software zum Beispiel eine selbst gezeichnete Skizze und GPT-4 kann daraus einen HTML-Code für eine Website erstellen.

Gibt es denn bei aller Begeisterung auch Dinge, die Sie bezüglich GPT skeptisch betrachten? Sehen Sie Gefahren?
Da gibt es einige Punkte. Zunächst muss man sich darüber im Klaren sein, dass ChatGPT und Co. weder Bewusstsein noch ein Verständnis über die Inhalte von Texten haben. ChatGPT schreibt dennoch überzeugende Texte, die aber nicht zwangsläufig richtig sein müssen. Die Ergebnisse sind plausible Fiktion. Das könnte unter anderem an dem Trainingsprozess liegen, bei dem auch Menschen involviert sind. Diese sind in der Regel keine Experten auf dem jeweiligen Fachgebiet, sie bewerten aber dennoch die Qualität der Ergebnisse. Dann wird zum Beispiel eine Antwort positiv bewertet, nur weil sie gut klingt. Wir haben bei uns im Team
auch ein paar absurde Textabschnitte von ChatGPT gesehen, die plausibel klangen, jedoch eher einer Dampfplauderei gleichkamen.

Die Firma hinter GPT, OpenAI, hat nicht nur dafür gesorgt, dass jeder die Software ausprobieren kann, sondern es gibt jetzt schon zahlreiche Unternehmen, die GPT über die von OpenAI angebotene API-Schnittstelle nutzen und in ihre Geschäftsprozesse integriert haben. Es wird zum Beispiel im Kundenmanagement oder bei der Produktion von Marketingtexten eingesetzt. Auch Microsofts Suchmaschine Bing greift auf GPT zurück. Das heißt, die Veränderungen in der Arbeitswelt finden nicht in zwei Jahren statt, sondern sie beginnen jetzt.
Absolut richtig. Viele innovative Firmen nutzen KI bereits. Wir arbeiten heute ebenfalls mit Unternehmen bezüglich des Einsatzes von ChatGPT und GPT-4 zusammen.

Was sind die Einsatzbereiche?
Bereiche wie das Beschwerdemanagement oder das Nachhaltigkeitsmanagement. Im Rahmen des Lieferkettengesetzes werden die Unternehmen unter anderem verpflichtet, hinsichtlich ihrer Sorgfaltspflichten bestimmte Texte zu generieren und wir schauen, wie ChatGPT dabei helfen kann. Unsere bisherigen Erfahrungen sind sehr gut.

Wir werden auch das Thema Kreativität neu denken müssen: Obwohl GPT kein Bewusstsein und auch kein Verständnis zum Beispiel für von ihm erstellte Marketingkonzepte hat, schafft die KI dennoch kreative Ergebnisse, die der Arbeit von Menschen häufig in nichts nachstehen. Letztendlich reiht die Software nur Zeichen aneinander. Es ist Statistik – und dennoch kann sie Neues erschaffen, auf das ein Mensch vielleicht nicht kommen würde.

Natürlich würde ich die KI nicht alleine an einem Slogan oder einem Mission Statement für ein Unternehmen arbeiten lassen. Denn viele Vorschläge sind unbrauchbar bis absurd. Aber von zehn Vorschlägen ist wahrscheinlich auch einer richtig gut. Deswegen sehe ich das größte Potenzial in der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz.

Und haben Sie durch Ihre Arbeit mit den Unternehmen schon mitbekommen, dass es wegen GPT zu Stelleneinsparungen kommt?
In den Bereichen der Softwareentwicklung habe ich davon noch nichts gehört. Ich denke, es wird auch eher Bereiche betreffen, bei denen es um das reine Texten und/oder um Übersetzungen geht. Ein Unternehmen kenne ich, das Übersetzerinnen und Übersetzer aufgrund des Einsatzes von KI einspart: Es werden nur noch ganz spezielle Texte an Übersetzungsbüros gegeben, der Rest wird über Künstliche Intelligenz abgedeckt.

Was raten Sie einem mittelständischen Unternehmen, das daran interessiert ist, GPT zu nutzen? Was könnten die ersten Schritte sein?
Die Unternehmen sollten grundsätzlich offen für Neues sein und den Rahmen für ihre Innovationsfähigkeit gestalten. Denn mit GPT und ähnlichen Technologien haben wir wirklich etwas Bahnbrechendes. Ich bin eigentlich niemand, der auf jeden Hype aufspringt, aber GPT und verwandte Künstliche Intelligenz werden die Welt verändern. Das mittelständische Unternehmen, von dem Sie sprechen, sollte möglichst früh die Mitarbeitenden einbinden und eventuelle Ängste und Befürchtungen thematisieren. Weiterbildungen sind eine mögliche Maßnahme. Es kann auch lohnenswert sein, zum Beispiel so etwas wie einen Hackathon zu organisieren, in dem die Möglichkeiten und Grenzen gemeinsam ausprobiert werden. Man muss den Menschen zeigen, wie KI funktioniert oder ihnen zumindest die Freiräume geben, GPT selbst auszuprobieren. Texte werden in Zukunft in allen möglichen Bereichen in Zusammenarbeit mit KI erstellt. Die Software macht Vorschläge, die die Mitarbeitenden dann eventuell noch mal anpassen oder bearbeiten. Die Nutzung wird so normal werden wie die von Taschenrechnern.

Wohin kann die Reise gehen? Was wird in einigen Jahren hinsichtlich des Einsatzes von KI in der Arbeitswelt noch möglich sein?
Ich sehe keine natürlichen Grenzen. Die Verbesserungen der KI-Software gehen kontinuierlich weiter. Zurzeit bauen OpenAI und Microsoft eine Plattform auf, die es GPT-4 erlaubt, auf weitere Webangebote zuzugreifen. Das wird die Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit weiter verbessern. Vermutlich werden sich früher oder später aber auch wettbewerbsrechtliche Fragen stellen.

OpenAI ist das Unternehmen, das hinter ChatGPT steht. Microsoft ist ein großer Partner und Investor. Der Name „OpenAI“ suggeriert, dass die Firma Open-Source-Produkte entwickelt. Ist dem so?
Die Sprachmodelle von OpenAI sind eine richtige Black Box, den Softwarecode gibt es nicht als Open Source. Sie können weder in die Algorithmen reinschauen noch in die Trainingsdaten und den Trainingsprozess. Wir nutzen etwas, von dem wir alle nicht wirklich wissen, wie es funktioniert.

Und schauen Sie trotzdem positiv in die Zukunft? Man könnte sich auch eine etwas dystopische Sicht zu eigen machen: Wir verlernen das Schreiben, wir sprechen keine Fremdsprachen mehr, wir bezweifeln bei allem die Echtheit, weil es von einer KI hergestellt sein könnte, Arbeitsplätze gehen verloren, die Gesellschaft spaltet sich.
Es gibt bestimmt auch negative Effekte. Beispielsweise wird es in manchen Bereichen zu Jobverlusten kommen. Es würde mich wundern, wenn das nicht passiert. Ich bin trotzdem eher optimistisch und denke, die KI wird dem Menschen bei der Arbeit und im Privaten einiges abnehmen und ihm das Leben erleichtern.

Die Geschichte hat gezeigt, dass das den Menschen immer wieder gelungen ist.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher

 

changement! Heft 05/2023

 

Autor

Peter Buxmann
ist Universitätsprofessor für Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Darmstadt. Er ist zudem Mitglied in zahlreichen Aufsichts- und Leitungsgremien, unter anderem im Beirat des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft – das Internet-Institut in Berlin sowie im Aufsichtsrat der Eckelmann AG, wo er mit für die digitale Transformation zuständig ist. Seine Forschungsschwerpunkte sind Anwendungen und Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz, die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Zukunft der digitalen Arbeit.
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Veränderungsbegleiter und -begleiterinnen werden bald noch mehr zu tun bekommen. Denn ohne Zweifel werden GPT und andere KI-Modelle die Arbeitswelt massiv verändern. Einen weiteren Beitrag zum Thema „Künstliche Intelligenz“ finden Sie hier: „Change durch KI: Es gibt Arbeit!“.

Céline Flores Willers
ist Unternehmerin, Gründerin und CEO von The People Branding Company. Die 30-jährige hat mit Disziplin, Mut und Lust an Innovation eine der führenden deutschen Beratungen für Personal Branding und Corporate Influencing auf LinkedIn aufgebaut. Wir haben ihr 5 Fragen gestellt und teilen ihre Top-Tipps, um selbst eine Personal Brand zu kreieren, und welche Vorteile Personal Branding für Unternehmen und für die Person selbst bereithält.

Für alle, die sich noch nicht mit dem Thema vertraut gemacht haben: Was ist eine Personal Brand?
Wenn Personen sich zur Marke entwickeln, wird das als Personal Branding bezeichnet. Es geht um Wiedererkennungswert und Reputation. Der Mensch rückt dazu in den Vordergrund, seine Persönlichkeit, seine Kompetenzen, Werte und Leistungen. Amazon-Gründer Jeff Bezos fasst es gut zusammen: „Deine Personal Brand ist das, was andere Menschen über dich sagen, wenn du nicht im Raum bist.“ Es geht also um Selbstvermarktung, aber auch darum, sich zu einem bestimmten Thema zu positionieren und in dem Zusammenhang immer wieder sichtbar zu sein.

Wer sollte sich mit dem Thema Personal Branding beschäftigen?
Eigentlich alle, die sich oder einem bestimmten Thema mehr Aufmerksamkeit geben wollen. Das kann vom CEO über Head of bis zum Praktikanten jeder sein. Um im Business Kontext Sichtbarkeit zu erreichen, eignet sich vor allem die LinkedIn Plattform. Dort können insbesondere Mitarbeitende über ihre Personal Brand viel Awareness für ihr Unternehmen erzielen und darüber Sympathie und Werte vermitteln.

Was macht Personal Branding aktuell so relevant?
Tatsache ist: Menschen folgen am liebsten Menschen, keinen Unternehmen. In einer Zeit, in der Werbebotschaften aufgrund der extrem kurzen Aufmerksamkeitsspannen kaum mehr zur Zielgruppe durchdringen, erhalten Menschen mit einer starken Personal Brand eine viel höhere Aufmerksamkeit und stärken ihre Authentizität. Themen können viel glaubwürdiger vermittelt werden.

Deine 5 Top-Tipps für die sofortige Umsetzung im Arbeitsalltag:

  1. Klarheit über die eigene Strategie schaffen. Was sind deine Stärken? Für welches Thema brennst du? Was kann dein Netzwerk von dir lernen?
  2. Zielgruppe definieren. Wen möchtest du mit deinen Themen erreichen? Wo findet die Zielgruppe statt?
  3. Fang an und teste. Viele warten immer, bis sie ihr LinkedIn Profil perfekt aufgesetzt haben, bevor sie ihren ersten Post veröffentlichen. Das braucht es aber nicht – viel wertvoller ist es, direkt Learnings aus dem Doing zu ziehen und darauf aufzubauen. Plane dir aktiv Zeit ein, mit 1-2 Stunden pro Woche legst du bereits einen guten Start hin.
  4. Biete inhaltlichen Mehrwert. Arbeite dein Expertenthema heraus und kreiere Content um deine Themen. Wir empfehlen eine Postingfrequenz von 2x die Woche.
  5. Lerne von anderen erfolgreichen Personal Brands. Analysiere ihren digitalen Auftritt und ihren Content auf LinkedIn.

Welche Vorteile bringt Personal Branding den Unternehmen?

Auf LinkedIn können Unternehmen von der Strahlkraft einer starken Personal Brand – beispielsweise ihrer Führungskräfte – sehr profitieren. Auch über Corporate Influencer, also Mitarbeitende, die über ihre LinkedIn Accounts Content posten, der auf die strategischen Ziele des Unternehmens einzahlt, kann zusätzliche Awareness geschaffen werden. Dank der hohen Reichweite und Glaubwürdigkeit dieser Postings werden Talente und auch Kunden leichter auf das Unternehmen aufmerksam. Wir bei The People Branding Company begleiten Unternehmen, die Corporate Branding und Influencing als strategische Maßnahme bei sich etablieren möchten.

Unternehmen profitieren, wenn sie Mitarbeiter als ihre Markenbotschafter auf LinkedIn ausbilden. Céline Flores Willers, CEO von The People Branding Company erklärt die Erfolgsfaktoren in ihrem Beitrag „So machen Unternehmen Mitarbeitende zu Star-Influencern“.

Im vergangenen Herbst hat Vodafone eine digitale Plattform eingeführt, die als Eckpfeiler der Transformation des Unternehmens gilt. Grow ist das neue globale Recruiting-, Skill- und Lern-Ökosystem, das unter anderem das lebenslange Lernen und die Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden unterstützen soll. Personalchefin Felicitas von Kyaw erläutert im Gespräch die Bedeutung des Lernens für den Konzern, worauf man bei der Einführung von Grow besonders Wert gelegt hat und wie die Nutzung gefördert wird.

Grow ist seit November 2022 das neue globale Recruiting-, Skill- und Lern-Ökosystem von Vodafone. Es gilt als Eckpfeiler in der Transformation der Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Warum ist diese Transformation notwendig?
Die Welt hat sich noch nie schneller verändert als jetzt; sie verändert sich exponentiell. Wandel ist die einzige Konstante und betrifft mehr denn je auch unsere Arbeitsweisen. Neue Technologien treiben diesen Wandel an, in technischen und nicht-technischen Berufen. Roboter werden Kollegen, virtuelle Realität und künstliche Intelligenz unsere täglichen Begleiter. Diese und weitere Technologien beschleunigen die Transformation im Job, es werden sich ganze Berufsbilder sukzessive verändern und so rücken die Fähigkeiten von Mitarbeitenden in den Fokus. Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitende müssen sich ständig neu erfinden, um zukunftsfit zu bleiben. Abschlüsse und Berufserfahrung sind keine für sich stehenden Kriterien mehr, um eine Rolle auszufüllen.

Und auch Vodafone befindet sich im Wandel: von einem Telekommunikationsunternehmen in ein Technologieunternehmen. Als Unternehmen und als Menschen werden wir die Veränderungen meistern, wenn wir uns kontinuierlich weiterentwickeln und lernen.

Was sind die Kernelemente von Grow?
„Grow with Vodafone“ ist ein globales Lern-, Skill- und Recruiting-System, wie du richtig gesagt hast. Es wächst stetig mit unserer Nutzung mit und passt sich an – unter anderem auf Basis des Nutzerverhaltens. Die Erstellung eines Skill-Profils ermöglicht es dem „intelligenten“ System, personalisierte Lern- und Entwicklungsempfehlungen zu geben.

„Grow with Vodafone“ besteht im Wesentlichen aus vier Säulen: „Grow your Skills“ und „Grow your Careers“, „Grow your Team“ und „Grow your Learning“.

Kannst du einmal kurz erläutern, was sich hinter den vier Säulen verbirgt?
Gerne. Mit „Grow your Skills“ können die Mitarbeitenden ihre Skills-Entwicklung selbst in die Hand nehmen, indem sie ihr eigenes Skills-Profil erstellen. Sie können im Profil eigene Skills angeben und den Fähigkeitsgrad selbst einschätzen.

Vodafone Grow (Erläuterung)

Mithilfe des Karriere-Planers in „Grow your Careers“ können Mitarbeitende erkennen, welche Skills sie gezielt weiterentwickeln, um ihren gewünschten Karriereweg zu verfolgen und ihre persönlichen Ziele zu erreichen. Für Aufgaben bzw. Rollen gibt es Skillsets, anhand derer sie sich hinsichtlich ihrer Lernreise orientieren können.

Passende Lernempfehlungen bekommen sie nahtlos durch die Verknüpfung zu „Grow your Learning“ angezeigt. Dieses innerhalb von Grow integrierte KI-unterstützte Stellenportal ermöglicht ein intuitives, personalisiertes Erlebnis, das Rollen- und Lernempfehlungen auf der Grundlage der eigenen Skills, bisheriger Erfahrungen und Interessen gibt. Und das sowohl hinsichtlich der aktuellen Aufgabe als auch in Bezug auf zukünftige Rollen für die sich Mitarbeitende im Rahmen der persönlichen Weiterentwicklung interessieren.

Auch das Bewerbermanagement in „Grow my Team“ wird durch KI unterstützt und bietet unter anderem neue Active-Sourcing-Optionen für Recruiter:innen und Hiring Manager:innen. Ihre Zeit kann optimiert werden, indem die am besten geeigneten potenziellen Bewerbungen auf Basis der Skill-Profile hervorgehoben werden.

Eure Lernplattform soll die Lernerfahrung stärker personalisieren. Lernen soll einfacher und selbstbestimmter werden. Wie sieht das beispielhaft aus?
„Grow your Learning“ führt alle Lerninhalte aus unserer eigenen Bibliothek und von externen Anbietern an einem zentralen Ort für unsere Mitarbeitenden zusammen. Anhand von eigenen Aktivitäten, Likes, gespeicherten oder abgeschlossenen Trainings, Empfehlungen von Kolleg:innen, Peer Groups, angegebenen Interessen und Empfehlungen, die zum persönlichen Skill-Profil passen, bekommt jeder Mitarbeitende eine personalisierte Oberfläche gezeigt. Mitarbeitende können Einfluss auf die Auswahl nehmen, indem sie Empfehlungen ablehnen, besonders passende Elemente abspeichern oder mit einem Like versehen und dadurch ihr Skill- oder Interessenprofil anpassen.

 

Vodafone Grow (Screenshot)

Zusätzlich zum On-demand-Angebot mit einem Mix aus internen und externen Inhalten, hat der Mitarbeitende auch Zugriff auf den Katalog mit kostenpflichtigen Lernformaten, die meist als analoge und/oder virtuelle Klassenraumtrainings angeboten und über ein strategisch gesteuertes Lernbudget freigegeben werden müssen. In Zukunft soll der Fokus zunehmend darauf liegen, dass Mitarbeitende untereinander ihre Lern-Playlists austauschen.

Denkst du, dass es bei den meisten Mitarbeitenden eine Verhaltensänderung in Bezug auf ein selbstbestimmtes Lernen braucht? Welche Routinen werden sich ändern müssen?
Neue Skills kann man lernen. Die richtige Einstellung zum Lernen hingegen muss jeder mitbringen. Neugierde ist dabei eine Schlüsselkompetenz für persönliche Veränderung. Wir alle brauchen regelmäßige „Software-Updates“ für unsere Köpfe und ein Mindset-Shift von „alles wissen“ hin zu „alles lernen“. Denn Lernen bereichert. Wir wollen sowohl Freude am als auch einen spielerischen Umgang zum Lernen entwickeln. Dieses Umdenken ist für Führungskräfte und Mitarbeitende gleichermaßen wichtig.

Wir können Neugierde aktiv fördern, indem wir diverse Perspektiven stärken, zum Beispiel über cross-funktionale Entwicklung und Projektarbeit. Ebenso gelingt das, indem wir eine Haltung zulassen, die es erlaubt, offene Fragen zu stellen. Wir sollten uns gegenseitig zuhören und ermuntern, „out of the box“ zu denken.

Auch eine Kultur des ständigen Lernens fördert Neugierde. Ganz praktisch heißt das, Lernen zu einer „alltäglichen“ Sache zu machen, indem wir es in unseren Arbeitsalltag integrieren, durchaus auch „on the job“ oder anders formuliert: indem wir den Arbeitsort zum Lernort machen und Praxisnähe ermöglichen.

Gerade wenn Mitarbeitende ihre eigene Kompetenzentwicklung in die Hand nehmen sollen, braucht das doch eine Menge Selbstreflexion. Wie wird das gefördert?
Wir müssen unsere Mitarbeitenden zu „Selbstentwicklern“ werden lassen und dafür die persönliche Motivation nutzen. Gelerntes verliert durch Technologie als Treiber schneller an Gültigkeit als früher. Wir erleben, dass wir Wissen nicht mehr auf Vorrat halten können, weil sich Dinge schnell verändern. Ganze Berufsbilder fallen weg und so stehen unsere eigenen Fähigkeiten immer mehr im Vordergrund. „Wissen ist Gold“, sagte man früher. „Fähigkeiten sind das neue Gold“, sagt man heute. Und somit wird klar, dass man nie „ausgelernt“ hat, sondern Lernen ein dauerhafter, ja lebenslanger Prozess ist, der über die formale Bildungszeit hinausgeht.

Und dabei ist es ebenso wichtig, dass wir persönlich Verantwortung für unsere Lernreise und weitere Entwicklung übernehmen sowie regelmäßig über den Tellerrand schauen. Hierfür müssen wir aber zunächst unsere eigene Perspektive dazu verändern: Lernen nicht als Belastung zu erleben, sondern als Möglichkeit zu sehen. Die persönliche Lernreise fängt bei der eigenen Motivation an und bei den eigenen Interessen.

Die Selbstbestimmung, auch beim Lernen, ist wesentlich. Dabei mag es helfen, sich an die eigene Kindheit zu erinnern, in der wir zumeist mit offenen Augen durch die Welt gegangen sind und die berühmte „Warum-Frage“ gestellt haben. Diese Neugierde in uns als Erwachsene zu wecken, das ist eine wichtige Triebfeder. Damit das gelingt, wollen wir dem Lernen das „Müssen“ nehmen und es mit Alltagsnähe und einer gewissen Leichtigkeit angehen. Mit dem klaren Ziel, den Prozess und das Ergebnis des Lernens als Bereicherung zu betrachten.

Inwieweit wurde denn bei der Entwicklung der Lernplattform sichergestellt, dass sie intuitiv gut bedienbar ist und sich wirklich an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert?
Eine Besonderheit an dieser Lernplattform ist, dass sie allen Lernenden eine individuelle Startseite bietet. Je nachdem welche Skills vorhanden sind und welche Interessen hinterlegt wurden, welche Trends es gerade gibt und welche Empfehlungen von Kollegen gesendet wurden: Es entsteht eine ganz persönliche Seite.

Außerdem sind wir mit einem MVP, einem Minimum Viable Product, gestartet. Das heißt, die Lernplattform hatte bereits zum Launch die notwendigsten Funktionen. Alles weitere wird mit zunehmender Nutzung entwickelt. Kundenfeedback wird über alle Vodafone-Ländergesellschaften hinweg gesammelt. Auf dieser Basis werden Optimierungsentscheidungen getroffen oder Funktionen weiterentwickelt. So erhält die Plattform regelmäßig technische Updates. Ein konkretes Beispiel ist, dass Lernende jetzt auch externe Inhalte in ihrer internen Lernhistorie mit wenigen Klicks dokumentieren können. Und sie behalten eine bessere Übersicht und können ihre Lernaktivitäten an einem zentralen Ort zusammenbringen.

Worauf zielt die Change-Begleitung? Ist die Akzeptanz schon erreicht?
Viele Mitarbeitende konnten wir überzeugen, die Plattform zu nutzen und Teil der Community zu werden. Ihr Feedback haben wir direkt in den ersten Wochen zur Verbesserung der Lernerfahrung verwendet. Woran wir als Organisation weiterarbeiten, ist, eine Kultur des ständigen Lernens zu fördern. Ganz praktisch Lernen zu einer „alltäglichen“ Sache machen. Das bedeutet auch, dass wir individualisierte Lernmöglichkeiten fördern wollen, damit die persönliche Zielsetzung und Motivation zum Tragen kommen können.

Fahrt ihr eine Kommunikationskampagne rund um Grow? Wie sieht die aus?
Unsere Kommunikationskampagne mit klaren Zielen stützt die Einführung von „Grow with Vodafone“. In der Pre-Launch-Phase im Herbst 2022 wurde die HR-Community von Vodafone-Deutschland exklusiv als „Friendly User“ bereits zur Plattform zugelassen. So konnten erste Verbesserungen kurzfristig erzielt werden und HR als Change-Begleiter sich vorab vertraut machen. Die Launch-Phase diente zur gezielten Aktivierung von Mitarbeitenden und Führungskräften, um sich erstmalig damit auseinanderzusetzen. Die aktuelle Vertiefungsphase hingegen fördert eine regelmäßige Nutzung. Und auch durch die Verbesserungen und neuen Content wollen wir die Nutzung intensivieren.

Welche Rolle spielen die Führungskräfte, wenn es um die Nutzung der Lernplattform geht? Sollen sie als Vorbilder vorangehen?
Entwicklung findet andauernd statt und nicht nur, wenn man in eine neue Rolle wechselt. Wie ich bereits erwähnte, wollen wir „Lernen“ in den Alltag integrieren und den richtigen Rahmen dafür schaffen. Dafür brauchen wir Führungskräfte, die mit gutem Beispiel vorangehen und die dabei unterstützen, Räume dafür zu gestalten, aber auch Individualität und persönliche Motivation der Mitarbeitenden berücksichtigen.

Werden ansonsten Multiplikatoren oder Key User eingesetzt, die die Bekanntheit und Nutzung der Plattform fördern?
Wir nutzen Lern-Playlists unserer Vorstände, um Einblicke in deren Fokusthemen in Bezug auf den Anker „Lernen“ zu geben. Mitarbeitende teilen ihre Erfahrungen in Team-Meetings oder in unseren Online-Foren. Und sie geben sich gegenseitig Tipps zur Nutzung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 04/2023

 

Autor

Felicitas von Kyaw
ist Geschäftsführerin und Arbeitsdirektorin bei Vodafone Deutschland und verantwortet den Bereich Personal. Sie hat umfangreiche Management-Erfahrung im Bereich Human Resources, Change und Transformation Management sowie im Umfeld Marketing und Sales. Die studierte Diplom-Volkswirtin ist zudem systemische Beraterin, Coach und seit 2017 Präsidiumsmitglied im Bundesverband der Personalmanager (BPM).
Der Kommunikationskonzern Vodafone liefert Internet, Mobilfunk, Festnetz und Fernsehen aus einer Hand. Mit über 30 Millionen Mobilfunk-, fast 11 Millionen Breitband-, nahezu 13 Millionen TV-Kunden und zahlreichen digitalen Lösungen erwirtschaftet Vodafone Deutschland einen jährlichen Gesamtumsatz von etwa 13 Milliarden Euro.
»Felicitas bei LinkedIn

Die rasanten Veränderungen der neuen Arbeitswelt verlangen die Fähigkeit, agil und in die Arbeit integriert zu lernen, um weiterhin erfolgreich zu sein. Mit einer agilen Lernkultur schaffen Organisationen den passenden Rahmen für New Learning. Im folgenden Beitrag „Mit Lernhacks zur agilen Lernkultur“ gibt es einige Lernhacks zu diesem Thema.

Prof. Dr. Christian Busch weiß, was es braucht, um Serendipität, also unerwartetes Glück, zu kultivieren. Wie es funktioniert, beschreibt er in seinem neuen Buch „Erfolgsfaktor Zufall – Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können“. Im Interview spricht er darüber, wie ein Serendipität-Mindset auch Change-Projekte vorantreiben kann.

Herr Busch, was genau ist Serendipität und wozu brauche ich sie?
Serendipität lässt sich am besten definieren als unerwartetes Glück, das sich aus ungeplanten Ereignissen ergibt, in denen unsere Entscheidungen und unser Handeln zu positiven Ergebnissen führen.

Das klingt noch recht abstrakt. Hätten Sie ein Beispiel für Serendipität?
Eines meiner Lieblingsbeispiele hierfür ist die Entstehungsgeschichte der Kartoffelwaschmaschine des weltweit führenden Herstellers von Haushaltsgeräten, Haier. Denn als Haier-Vertreter erfuhren, dass Landwirte Haiers Waschmaschinen zur Kartoffelreinigung nutzten, passten sie die Maschinen schnell an. Damit die Teile mit dem zusätzlichen Schmutz fertigwerden konnten, den die Kartoffeln produzierten und der die normalen Maschinen überforderte. Hier wurde aktiv ein unerwartetes Kundenbedürfnis, das per Zufall bekannt wurde, aufgegriffen und mit der Entwicklung der „Kartoffelwaschmaschine“ aktiv Glück geschaffen – also Serendipität genutzt.

Gibt es ein Serendipität-Mindset bei Menschen?
Als ich anfing, erfolgreiche Geschäftsleute zu studieren, ist mir schnell aufgefallen, dass sehr viele von ihnen erklärten, sie hätten einfach Glück gehabt. Das Glück, von dem hier gesprochen wird, ist allerdings nicht blindes Glück, wie es auftritt, wenn man beispielsweise in eine reiche oder arme Familie geboren wurde. Diese Geschäftsleute verstanden es, wie bei der Kartoffelmaschine, aus Zufällen aktiv Glück zu schaffen und damit den Erfolgsfaktor Zufall zu nutzen.

Also haben sich diese erfolgreichen Geschäftsleute aktiv zu Glückspilzen gemacht?
Das ist eine gute Frage. In einem meiner Lieblingsexperimente wurden Unterschiede zwischen zwei Menschentypen untersucht. Die einen sahen sich eher als Glückspilze und wiesen so etwas wie ein Serendipität-Mindset auf. Die anderen sahen sich eher als Pechvögel, ihnen fehlte eher dieses Serendipität-Mindset. Die Leute sollten eine Straße runterlaufen, in ein Café reingehen, sich einen Kaffee holen und danach mit der Versuchsleitung sprechen. Was die Forschenden den Leuten nicht gesagt haben: Auf dem Weg und im Café waren versteckte Kameras, vor dem Café lag ein Geldschein und im Café war direkt neben der Theke ein Tisch, an dem ein unglaublich erfolgreicher Geschäftsmann saß.

Was ist passiert?
Eine Person mit Serendipität-Mindset geht die Straße runter, sieht den Geldschein, hebt ihn auf, geht ins Café, bestellt sich einen Kaffee, setzt sich an den Tisch direkt an der Theke, spricht mit dem Geschäftsmann und erhält eine Visitenkarte. Die unglückliche
Person ohne Serendipität-Mindset geht auch die Straße runter, sieht den Geldschein nicht, geht ins Café, bestellt sich einen Kaffee, setzt sich auch an den Tisch direkt an der Theke und ignoriert den Geschäftsmann. Am Ende des Tages werden beide gefragt, wie der Tag so war. Glückspilze sagen, es war ein perfekter Tag: Ich habe Geld auf der Straße und einen neuen Freund gefunden, durch
den ich potenziell eine neue Geschäftsmöglichkeit habe. Pechvögel sagen nur, es war ein ganz normaler Tag: Heute ist nichts passiert. Und genau das ist das Spannende: Je nachdem, ob eine Person ein Serendipität- Mindset hat oder nicht, können in der gleichen Situation völlig andere Ergebnisse entstehen.

Was fördert beziehungsweise behindert Serendipität in der Arbeitswelt und ganz besonders in Projekten?
Hier sehe ich zwei Ebenen, die individuelle und organisationale, die fördernd oder hinderlich sein können. Auf individueller Ebene können vor allem Ängste, beispielsweise vor Zurückweisung, und starre Vorstellungen darüber, wie Dinge zu funktionieren haben, Serendipität behindern. Förderlich sind wiederum Neugierde, Aufmerksamkeit und Improvisationsfähigkeit.

Auf organisationaler Ebene geht es darum, eine Kultur zu schaffen, in der Serendipität erlaubt wird. Dabei sind psychologische Sicherheit und die Fähigkeit einer Organisation, neue Informationen in existierende Strukturen und Prozesse zu integrieren, entscheidende Erfolgsfaktoren. Haben Beschäftigte Angst davor, über Fehler oder unerwartete Ereignisse zu sprechen, weil kein Raum für Lernen und Anpassen der Arbeitsprozesse gegeben ist, wird es sehr unwahrscheinlich, dass Zufälle gewinnbringend für Innovationen genutzt werden können.

Hätten Sie einen Tipp, wie man individuell Serendipität fördern kann?
Eine einfache Möglichkeit, individuell für mehr Zufallsmomente zu sorgen, sind Serendipitätshaken. Fragt man beispielsweise Oli Barrett, einen in London ansässigen Unternehmer: „Was machen Sie beruflich?“, sagt er in etwa: „Ich liebe es, Menschen zu verbinden, arbeite im Bildungssektor und beschäftige mich seit Kurzem mit Philosophie. Und Klavier spiele ich besonders gern.“ Diese Antwort enthält vier Haken: eine Leidenschaft (Menschen zu verbinden), eine Berufung (Bildung), ein Interesse (Philosophie) und ein Hobby (Klavierspielen). Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Gegenüber eine Ähnlichkeit entdeckt, die die beiden verbindet. Das Gute an der Methode ist, dass sie in unterschiedlichsten Kontexten, sei es auf einer privaten Party oder in einem geschäftlichen Meeting, sofern es die Arbeitskultur in der Organisation hergibt, genutzt werden kann.

Welche Rolle spielt der Zufall bislang in Change-Projekten in Organisationen?
Er wird schnell als etwas Lästiges, das einem in die Quere kommt und extra Arbeit macht oder direkt als Bedrohung bewertet. Ich habe in Organisationen immer wieder beobachtet,
wie bei Change-Projekten recht straffe Pläne geschmiedet werden, wann welche Prozesse einzuleiten und abzuschließen wären. Solche Pläne haben wiederum häufig zur Folge, dass nach dem Prinzip „alles muss nach Plan laufen“ gearbeitet wird statt sich auf den tieferen Sinn, wohin das Change-Projekt langfristig führen soll, zu konzentrieren und entsprechend Pläne auch anzupassen.

Was tun Sie bei Ihren unterschiedlichen Projekten, sei es als Wissenschaftler oder CEO, um in Ihren Teams den Erfolgsfaktor Zufall nutzbar zu machen?
In meinen unternehmerischen Führungspositionen habe ich meine Aufgabe vor allem darin gesehen, das individuelle Potential aller Beschäftigten zu verstehen und mir die Frage zu stellen, was es braucht, um dieses ideal nutzen zu können. Ich bin der Überzeugung:

Fragen zu stellen, ist entsprechend damals wie auch heute als Wissenschaftler meine Haupt- und Lieblingsbeschäftigung. So entsteht der nötige Austausch, um dem Erfolgsfaktor Zufall eine Chance zu geben.

Was sollte aus Ihrer Zufall-Sicht bei der Projektplanung und Projektleitung unbedingt vermieden werden?
Zum einen sollte vermieden werden, Projektpläne als unbedingt genau abzuarbeitende Anforderungskataloge vorzugeben. Denn damit erklärt man unerwartete Ereignisse oder den Zufall von vornherein zur Bedrohung. Zum anderen sollten Change-Projektleitende klar kommunizieren, den Beteiligten in einigen Bereichen schlichtweg keine Planungssicherheit liefern zu können. Es ist entscheidend, diese potentielle Instabilität durch Change gemeinsam auszuhalten und Wege der Unterstützung zu finden. Denn Menschen sind nicht per se gegen Veränderung. Menschen sind nur oft eher darauf bedacht, nicht zu verlieren als zu gewinnen. Viele Unternehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, formulieren zu diesem Zweck die Notwendigkeit einer Veränderung so um, dass die größere Gefahr darin besteht, sich nicht zu verändern. Wenn allen Beteiligten klar ist, dass die Veränderung dringend ist und sich lohnt, dann geht es darum, gemeinsam den maximalen Gewinn zu erzielen. Dazu gehört auch, den Erfolgsfaktor Zufall zu nutzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dr. Christina Guthier.

 

changement! Heft 03/2023

 

Autor

Prof. Dr. Christian Busch
ist Direktor des CGA Global Economy Programs an der New York University und lehrt auch an der London School of Economics und Political Science. Er ist regelmäßiger Redner auf Konferenzen wie dem Weltwirtschaftsforum (WEF) und TEDx sowie Mitglied des WEF-Expertenforums, Ehrenmitglied der Royal Society of Arts und steht auf der Thinkers50-Radar Liste. Über seine Arbeit berichteten bereits unter anderem Harvard Business Review, Forbes und BBC. Sein Buch „Erfolgsfaktor Zufall: Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können“ erschien am 28. Februar 2023 bei Murmann.
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Veränderungsprojekte misslingen häufig. Studien liefern dafür gute Gründe. Doch worauf führen Change-Verantwortliche selbst ihr Scheitern zurück? Dieser Beitrag versammelt anonymisierte Stimmen, die ungeschminkt von ihren Pleiten berichten: Fuck-ups.

Wer immer dafür wirbt, dass Change-Projekte nicht ohne professionelle Unterstützung gelingen, verweist auf einschlägige Studien. Die belegen in schöner Regelmäßigkeit, dass bis zu 70 Prozent aller Veränderungsprojekte nicht die Ziele erreichen, die sie sich gesteckt haben.

Auch die Gründe ähneln sich. Am häufigsten zitiert werden die acht Ursachen, die John Kotter in seinem Klassiker „Leading Change“ für das Scheitern von Change-Projekten verantwortlich gemacht hat. Zur Erinnerung: das Versäumnis, die Dringlichkeit der Veränderungsmaßnahme darzulegen, eine starke Führungskoalition zu bilden, eine Vision der Veränderung zu vermitteln, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, kurzfristige Erfolge systematisch zu planen sowie die zu frühe Verkündung des Abschlusserfolges und die ausbleibende Verankerung der Veränderungen in der Unternehmenskultur.

Die Unternehmensberatung BearingPoint kam bei der Befragung von 300 Schweizer Change-Verantwortlichen im Jahr 2021 auf sechs Handlungsfelder, in denen Fehler zum Scheitern von Veränderungsprojekten führen:

1 Kultur/Mentalität: Emotionaler Widerstand aufgrund mangelnden Verständnisses

2 Leadership: Mangelnde Führung und Unterstützung

3 Kommunikation: Fehlende Klarheit

4 Menschen/Fähigkeiten: Begrenzte Ressourcen und mangelndes Know-how

5 Struktur/Prozesse: Fehlende Ausrichtung auf Wandel

6 Umsetzung: Mangel an Vision, Strategie, Zielen und klar definierter Roadmap

Doch wovon berichten Projektleitende und Change-Verantwortliche im persönlichen Gespräch, wenn es darum geht, was die größten Fehler und Niederlagen ihrer Laufbahn waren? Und wenn, wie in diesem Fall geschehen, man ihnen bei Veröffentlichung absolute Anonymität zusichert? Folgende Beispiele und Erfahrungen kamen in den anonymen Gesprächen zutage.

Homeoffice-Einführung setzt nur auf Regeln

Person A berichtet von einer überstürzten Einführung von Remote Work im Zuge der Corona-Krise. „Da haben wir im Tagesrhythmus Verhaltensregeln, Durchführungsanweisungen und Techniktipps rausgehauen. Doch in den Köpfen lebte die Präsenzkultur weiter.“ Das habe natürlich bereits die Arbeit aus dem Homeoffice heraus überschattet – und zwar sowohl von Seiten der Führungskräfte, die um Kontrolle rangen, als auch von Seiten der Mitarbeitenden, die Leistungsnachweise höher gewichteten als Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Kein Wunder, dass nach Abklingen der Epidemie sofort wieder eine Präsenzpflicht eingeführt wurde.

Das aber hätte verhindert werden können. „Wir hätten das technische Einführungsprojekt einfach mit einem echten Veränderungsprozess begleiten müssen“, berichtet die Person. „Da hätte es genügt, die Remote-Erfahrungen zu reflektieren und mit Führungskräften wie Mitarbeitenden zu besprechen. Im Anschluss hätten wir entsprechende Kommunikationsskills und kooperative Führung schulen können – und die Welt sähe heute bei uns anders aus.“

Innovationsinitiative demotiviert im Bestandsgeschäft

Person B berichtet von einer großen Change-Initiative, die ein mutmaßlich träge gewordenes Familienunternehmen hin zu einer Innovationshaltung führen sollte. „Da haben wir die Leute mit Silicon-Valley-Narrativen überschüttet, Innovationsinseln gebaut, dort die Leute experimentieren und Geld verbrennen lassen – und noch dazu den Kolleginnen und Kollegen in einem immer noch sehr soliden Bestandsgeschäft suggeriert, sie hätten die Zeichen der Zeit nicht verstanden, sie seien zu träge, zu rückwärtsgewandt und ohnehin mehr oder weniger ein Auslaufmodell.“

Das führte natürlich im Bestandsgeschäft zu Frustration, riss Gräben auf und erzeugte Kämpfe um Anerkennung und Ressourcen. Auch erwies sich dieses Vorgehen als in keinster Weise hilfreich: Den Innovatoren fehlte die Rückkopplung in die Bestandsbereiche, die Innovationslust der Bestandsbereiche wurde ausgemerzt und führte zu Kündigungen oder innerer Emigration. „Dabei wäre es so einfach gewesen“, erzählt die Person. „Wir hätten nur den Gedanken der Ambidextrie leben müssen, nämlich dass es bei uns beides braucht: Exploration und Exploitation, Innovation und Effizienz. Und wir hätten beides wertschätzen und eine Durchlässigkeit zwischen den Bereichen ermöglichen müssen.“ In diesem Fall setzte sich Einsicht durch – und im genannten Sinne wurde, allerdings für viele zu spät, nachgesteuert.

Kommunikation, die keiner braucht

Person C berichtet: „Wir haben bei der Einführung eines wichtigen Teils einer Personalstrategie eine unglaubliche interne Kommunikation dazu aufgesetzt. Und uns dann gewundert, dass es scheinbar niemanden interessiert hat. Da waren wir einfach zu produktverliebt und haben viel Energie und Begeisterung in etwas gesteckt, was aus Sicht unserer Stakeholder überhaupt nicht von Relevanz war.

Person D, die immer wieder als externe Kraft Change-Projekte begleitet, erzählte uns: „Ich habe ohne vorherige Stakeholderanalyse und Einschätzung der Gesamtsituation am Kick-off eines großen Projektes teilgenommen. Ein sachlicher Verweis von mir zu bestehenden Risiken hat dann unerwartet heftige Kritik losgetreten.“ Die geplante Veränderung war offenbar schon im Vorfeld sehr kritisch diskutiert worden. „Das hätte ich vorab recherchieren müssen. Es hat mir gezeigt, wie emotional auf Fakten reagiert wird und wie das objektive Urteilsvermögen in den Hintergrund rückt. Es wäre gut gewesen, die Situation im Vorfeld besser zu analysieren und die Risiken zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Rahmen anzusprechen.

„Den Fuck-up-Kult sehe ich kritisch”

Wie umgehen mit Fehlern und Scheitern in Change-Prozessen? Professorin Ilka Heinze hat dazu eine klare Meinung.

Zu scheitern schmerzt und verunsichert, auch in Veränderungsprojekten. Wie sollten Change-Verantwortliche damit umgehen?
Zuerst möchte ich betonen: Ich halte die Verherrlichung des Scheiterns für naiv und gefährlich. Fuckup- Nights und andere Moden sehe ich eher kritisch. Denn Fehler zu machen und zu scheitern, hat Auswirkungen auf die Betroffenen, die mit lockeren Sprüchen und unreflektierten Gruppenevents nicht zu bewältigen sind.

Was macht denn Scheitern mit Menschen?
Ich habe dazu unter Gründern geforscht. Da bin ich auf vier grundlegende Arten gestoßen, mit dem Scheitern umzugehen. Dabei geht es immer darum, dem Scheitern einen Sinn abzugewinnen und im Idealfall aus den Fehlern zu lernen.

Wie würden Sie diese vier Arten beschreiben?
Da gibt es Personen, die das gründlich analysieren, emotional wenig an sich heranlassen und Sachgründe finden, warum das Vorhaben gescheitert ist. Auf der Basis können sie ihren Frieden damit machen, lernen aber für sich selbst eher wenig. Dann gibt es die, die unter dem Scheitern und den Folgen leiden. Die stecken im Loch und grübeln. Die sind zu Veränderungen und Schlussfolgerungen gar nicht in der Lage – zumindest noch nicht. Die dritte Art, mit Scheitern umzugehen, ist eher sportlich: Hinfallen gehört dazu, aufstehen und weitermachen. Diese Personen reden befreit über ihr Scheitern, entwickeln sich dabei aber als Person kaum weiter. Die vierte und beste Art damit umzugehen, legen jene an den Tag, die das Scheitern intensiv reflektieren, ihr Verhalten anpassen und ändern wollen. Sie gehen Projekte nicht nur deshalb an, um Erfolge zu erzielen, sondern auch, um zu lernen.

Einen Wandel nicht herbeizuführen, den ich herbeiführen sollte, wird aber Change-Verantwortlichen kaum verziehen. Was tun?
Da sehe ich zwei Ansatzpunkte. Erstens: Die Balance zwischen Minimierung der Fehlerquellen und dem Lernen aus dann doch gemachten Fehlern zu finden. Agile Herangehensweisen, die Projekte iterativ gestalten und damit auch Fehler und Möglichkeiten zu scheitern überschaubar halten, sind ein guter Weg. Dann braucht es aber auch eine andere Einstellung zu Veränderungsprojekten.

Welche wäre das?
Wir sollten ehrlicher sein. Veränderung ist ein komplexes Anliegen, hier sollten die Lernchancen für alle Beteiligten betont werden. Gerade bei gemeinschaftlichen Veränderungsprojekten können Sie ja nicht nur mit Typ 3 oder 4 die Veränderung betreiben. Da müssen alle ins Boot, und alle sollten das Nötige dabei lernen. Und alle müssen übrigens genauso konsequent verlernen, was an Verhaltens- und Herangehensweisen dem Neuen im Wege steht. Change-Manager sollten sich daher zunehmend auch als Lern- und Verlern-Coaches verstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Randolf Jessl.

 

changement! Heft 03/2023

 

Autoren

Randolf Jessl
ist Geschäftsführer der Beratungsagentur Auctority. Er berät, trainiert und coacht an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen.
>>Randolf auf LinkedIn

Prof. Dr. Ilka Heinze
ist Professorin für Wirtschaftspsychologie und Management an der Hochschule Fresenius. Sie hat zu Lernstrategien von gescheiterten Entrepreneuren promoviert.
>> Ilka auf LinkedIn

Jede Veränderung ist anders – auch ihr Scheitern. Dennoch lassen sich manche Ursachen für den Misserfolg besonders oft in Unternehmen beobachten. Im Beitrag „Warum Change häufig scheitert“ sind sieben Punkte für das Scheitern von Change.